Schon der allererste Satz im Buch, ein Zitat der Mutter, verweist auf die menschliche Fertigkeit des Sprechens. So meint die Mutter der kindlichen Romanfigur: „Er kann nicht sprechen lernen, wenn er seinen Körper nicht kennt.“ (S. 5) Sprache ist für uns mehr als nur ein Kommunikationsmittel, mit dem wir uns austauschen. Mit der Sprache, die wir lernen, werden wir Subjekt und zugleich Teil der Gesellschaft, in der wir leben. Sie bringt unsere Gedanken, Meinungen und Wünsche zum Ausdruck und konstruiert so unser Handeln und unsere sozialen Strukturen. Sie verbindet oder trennt uns, sie ist Identifikationsmerkmal und Ausschlusskriterium zugleich. Aber was passiert, wenn das mit der Sprache nicht funktioniert, wenn das, was mensch von sich gibt, nicht richtig verstanden wird? Das Kind Michael versteht genau, was die anderen zu ihm sagen, doch wenn es antworten oder selber sprechen möchte, kommt nur Unartikuliertes aus seinem Mund, das keinen Sinn mehr ergibt. Nur seine Mutter weiß meistens, was es meint, und übersetzt. Doch im Kindergarten wird das zu einem Problem, wo doch die Übersetzerin nicht ständig dabei sein kann. Die Pädagogin nennt es Brabbeln, die Ärzt*innen, die daraufhin aufgesucht werden, sprechen von einer Wahrnehmungsstörung (Die Diagnose Autismus soll erst viel, viel später Klarheit bringen). Das Kind selbst ist einfach nur frustriert und wütend. In solchen Situationen läuft es rot an und schnauft. Zum Glück schreit es aber nicht, meinen die Erwachsenen. Doch das nur, weil es keine lauten Geräusche mag.
Das sind die ersten Erfahrungen, von denen dai1 Autor*in im autobiografischen Romandebüt Alles dazwischen, darüber hinaus erzählt. Schon als Kleinkind erfährt hen, wie es sich anfühlt, nicht wie die anderen zu sein, nicht der Norm und den daran geknüpften Erwartungen zu entsprechen. Die Mutter macht sich Sorgen, sucht nach Hilfe und Lösungen, geht mit dem Kind Michael zu Ärzt*innen, Therapeut*innen und ins Ambulatorium für körper- und mehrfachbehinderte Kinder.
Der Vater sieht alles etwas entspannter, konzentriert sich auf die positiven Eigenschaften seines Sohnes, denn als solcher wird er großgezogen. Und tatsächlich scheint Michael aus seiner „Störung“ herauszuwachsen. Obwohl er als Integrationskind eingeschult wird, zeigt sich rasch die außerordentliche Lernbegabung. Nach der Volksschule soll „Computerkopf“, wie die Mimi-Oma das Enkelkind liebevoll nennt, in ein Gymnasium eingeschrieben werden. Dort erfährt Michael recht schnell, was der Soziologe Pierre Bourdieu als „die feinen Unterschiede“ beschreibt. Zum ersten Mal wird ihm sein eigener Habitus bewusst und zum Problem, denn dieser entscheidet über seine soziale Position innerhalb der Klasse. Als Kind aus einer Arbeiter*innenfamilie, mit wenig Bildungshintergrund und noch weniger Geld, gehört er erwartungsgemäß nicht gerade zu den „Coolen“. Und Michael lernt auf andere Namen zu hören, mit „Opfer“ kann er sich besonders gut identifizieren, Mobbing inklusive. Die folgenden Schuljahre sind geprägt davon, möglichst unauffällig zu sein, sich anzupassen und dem Bestreben, irgendwie dazuzugehören. Vor allem das fehlende Geld zwingt ihn schon als Teenager immer wieder, unorthodoxe Lösungen für die daraus resultierenden peinlichen Probleme zu finden.
Erwachsenwerden bedeutet für viele eine Loslösung von der eigenen Herkunft. Nicht selten braucht es einen regelrechten Bruch damit, um den eigenen Weg gehen, das eigene Ich entwickeln zu können. Der auch für Noch-Michael notwendige Bruch mit seiner Herkunft ist kein abrupter. Er vollzieht sich langsam, aber stetig, wie das Herauswachsen aus einem Kleidungsstück. Er entschließt sich nach Matura und Zivildienst Journalismus zu studieren. Dank seiner Kommiliton*innen entdeckt er, dass es mehr als nur die Definitionen Mann und Frau gibt und dass Beziehungen auch ganz anders funktionieren und gelebt werden können. Er beginnt zu spüren, dass es auch ein Dazwischen gibt, in vielen verschiedenen Facetten. Die Beziehung zu seinen Eltern verliert in dieser Zeit mehr und mehr an Substanz, kehrt sich in manchen Dingen regelrecht um. So beginnt er zum Beispiel seine Eltern mit seiner Bildung zu unterstützen, etwa in Form von Bewerbungen oder Motivationsschreiben, die er für sie verfasst. Vor allem die Distanz zu seinem Vater scheint immer größer zu werden. Auch wenn dieser oft genug versucht, am Leben seines Kindes teilzuhaben, einen Bezug herzustellen zu dem, was Michael macht, es gelingt ihnen beiden nicht, echtes Verständnis füreinander zu entwickeln. „Aber es ist nicht die Fußballstadionsprache, die Arbeitersprache, die Proletensprache, die macht, dass ich mich für ihn schäme. Er steht für alles, was ich nicht mehr bin, für alles, was ich zurückgelassen habe, und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, steht er stellvertretend für die Rückkehr nach Simmering.“ (S. 145)
Der Übergang von der Kindheit, zuerst in die Pubertät und Jugend, bis ins Erwachsenenalter ist nicht nur eine psychische Herausforderung, dieser Prozess stellt auch eine große körperliche Veränderung dar. Für dai Autor*in Maë Schwinghammer ist auch Sprache etwas zutiefst Körperliches und hen versucht – so auch im Roman –, den Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen. Als Kind platzt Michael nachts ein Blutschwämmchen auf seinem Rücken, und er durchlebt eine vorübergehende Gesichtslähmung, kurz nachdem sich die Eltern haben scheiden lassen.
In der Pubertät, die Michael auch noch als junger Mann durchläuft, beginnt er ins Fitnesscenter zu gehen. Er will etwas aus sich machen, denn – das verspricht der Werbeslogan – „Selbstvertrauen ist wie ein Muskel, es wächst durch Training“. Und außerdem findet er seine neuen Muskeln geil, Testosteron und Schweiß sind geil, die Trainingskollegen sind geil, aber – und da sind sie sich alle einig: „No homo“ (S. 98)! Dass nicht einmal die Bezeichnung „Homo“ richtig zu Maë passt, wird hem erst bewusst, als hen während des Journalismusstudiums bei Simone de Beauvoir liest, sie wolle alles vom Leben haben, eine Frau und ein Mann sein. Auch Maë will eine Vulva und einen Penis haben, oder auch keines von beiden. Am 4. September 2019 besucht hen die Performance speakact in hems Lieblingslokal und da tritt dann das entscheidende Wort in hens Leben, das sich endlich richtig anfühlt: „Nicht binär“.
Egal, wie sehr wir uns „emanzipieren“, uns lösen von unseren Wurzeln, den prägenden Erfahrungen und ursprünglichen Zuschreibungen, wir werden immer wieder spüren, „dass manche Worte den Körper nie verlassen“ (S. 84). Doch Maë Schwinghammer zeigt, wie ein „Herauswachsen“ aus einer nicht-passenden Identität gehen kann. Hen lässt uns teilhaben an hems intimen Eindeckungsreise, an einer nicht gerade einfachen, teils schmerzhaften Suche nach einer Identität und einer Position in der Gesellschaft, die sich richtig anfühlt. Und am Ende ist auch diese nicht in Stein gemeißelt, denn – und mit dieser Botschaft erzeugt der Roman (bei mir) ein ganz warmes und ermutigendes Gefühl im Bauch – es gibt zu dem, was alles dazwischen ist, auch noch ein darüber hinaus.
1 Dai Autor*in verwendet im Roman eine geschlechtsneutrale Sprache nach dem NoNa-System, an die sich auch die Rezensentin im Text hält.
Daniela Fürst ist Kultur- und Mediensoziologin und als Journalistin seit 2004 redaktionell sowie organisatorisch Teil des Projektes literadio, das Gegenwartsliteratur hörbar macht.