#Roman

Alles Amok

Anita Augustin

// Rezension von Lisa Spalt

Einen Amoklauf der besonders giftigen Sorte hat Anita Augustin in ihrem neuen Buch inszeniert, den bitteren, wirkungslosen Amoklauf in einem System, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Die Autorin präsentiert uns Jakob, der ein mysteriöses, irgendwie mit der Mutter zusammenhängendes Problem mit seiner Männlichkeit hat. Augustin präsentiert ihn uns als eine Art Puzzle, das sie vor unseren Augen zusammensetzt. Die Handlung setzt ein an einem Dienstag „Im Jahr acht der Hoffnung auf den Tod der Mutter und einen sicheren Arbeitsplatz“. Jakob lebt im Prekariat. Kein Wunder, dass er auf die Straße geht, um der hässlichen Stiefmutter des Systems das Spiegelbild entgegenzuhalten, nicht wahr? Aber halt: Irgendwas stimmt an dem Setting nicht. Ja genau, Jakob ist nämlich Berufsdemonstrant, welch perfider Plot! Da haben wir eine Welt, in der Realismus heißt, so weit resigniert zu haben, dass der Protest zur Einkommensquelle derer wird, die sonst gar kein Auskommen mehr finden würden, dass also der Protest gerade von denen simuliert wird, die am meisten Gründe hätten, ihn zu üben.
Jakob fotografiert auch? Nun ja, aber Einkommensquelle ist diese Tätigkeit auch keine. Die Foto-Shootings mit der ziemlich doofen Babsi, die mit ihm und einer Puppe vorm Musterhaus posiert, sind nur dazu da, der Mutter, die im Pflegeheim lebt, die Existenz eines Familienlebens vorzugaukeln, das den ebenso erlogenen beruflichen Erfolg noch krönen soll. Alles Fake.

Jakobs Freunden geht es auch nicht besser. Der eine schuftet bei Ha&Em. Wenn er beim Nichtlächeln ertappt wird, wird ihm ein „Smile“ auf die Hand gestempelt. Wenn er nicht entsprechend der Betriebsphilosophie funktioniert, wird er mit Selbstoptimierungstechniken zur Simulation einer selbstbewussten, optimistischen Stimmung gepeitscht, während die Chemikalien in der verkauften Kleidung, in der offiziell keine Chemikalien drin sind, seine Haut zu einem ekzematösen Schlachtfeld umkrempeln. Der andere Freund Jakobs wiederum lebt im Park. Ein Stück Grün ist sein Wohn-, ein weiteres sein Badezimmer. Längst ist die allgemeine wirtschaftliche Lage zu einer geworden, in der man aus Glascontainern Flaschen klaut, für die man anschließend das Pfand kassiert, um zu überleben, und man ist inzwischen auch so weit gekommen, solche Beschäftigungen als Arbeit zu deklarieren. Und Babsi? Schreibt jede Woche zig Bewerbungen, kommt aber aus dem Lokal, in dem sie serviert und dabei ständig angegrapscht wird, einfach nicht raus. Überflüssig zu erwähnen, dass beim Personal dieses Romans auch im privaten Bereich nichts so läuft, wie es laufen sollte.

Endlich aber bietet sich der ganzen Crew eine Chance, dem Elend zu entkommen: das obligatorische Casting, das in einem Zeitalter der fehlenden Arbeitsplätze im sogenannte Westen das ist, was das Boxen oder der Fußball früher anderswo war: Die Verheißung einer Möglichkeit, ein besseres Leben zu führen, ein Nadelöhr, durch welches das Kamel des Konsumenten gehen muss, um endlich selbst ein paar Untertanen von Konsumenten unter sich zu scharen. Wer kein luxuriöses Leben führt, hat doch einfach nicht „alles“ gegeben. Und diese Leute hier geben alles. Und siehe da, Jakob gewinnt! Bald tritt er, der eben noch im Ha&Emm Kleider ausleihen musste, um sich für seinen Job als Berufsdemonstrant passend einzukleiden, tagtäglich auf die Bühne. Er hat ein sicheres Einkommen, die Massen jubeln ihm zu, halleluja. Wie kams? Jakob arbeitet jetzt als Frettchen im Freizeitpark. Die sadistische Seite des Systems kommt in dieser Institution endgültig zum Tragen. Die Frage ist: Wollt ihr das totale Glück? Die Diskrepanz zwischen der Märchenwelt des Vergnügungsparks und der brutalen Welt hinter den Masken, der Gehirnwäsche, dem Sadismus, der hier geübt wird, könnte nicht größer sein. Aber da fehlt doch noch das Verbindungsstück. Und dieses Verbindungsstück sind natürlich der Konsument und die Konsumentin, die schließlich selbst zur Peitsche greifen, um Phantasie und Realität endlich eins werden zu lassen.

Hier aber ist nun der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr weitergeht. Jetzt beginnt die schwer verwundete Parade der Märchenfiguren, deren Schmerz die Bedingung dafür ist, dass die Besucherinnen ihren denkwürdigen Tag im Paradies verbringen können, zu streiken. Der Schmerz, auf dem der ganze Fake des ganzen Systems aufbaut, ist endlich, so atmen wir auf, unerträglich geworden. Jetzt sollte es doch wirklich krachen, nicht?
Die eigentliche Show startet in diesem Buch erst ganz zum Schluss. Dann nämlich, wenn die Apokalypse geplant ist, wenn der ersehnte Tod der eigenen Mutter in greifbare Nähe rückt, wenn man sich vorbereitet hat, ihn selbst herbeizuführen …
Aber lesen Sie selbst! Anita Augustin hat hier ein äußerst gelungenes Buch vorgelegt, eine Story, die besonders klug ausgedacht ist, eine Kaskade schwarzen Humors – eines Humors, den man am Schluss als Element einer Haltung begreifen muss, die die Lage endgültig ausweglos macht.

Anita Augustin Alles Amok
Roman.
Berlin: Ullstein, 2014.
336 S.; brosch.
ISBN 9783550080852.

Rezension vom 15.12.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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