#Prosa

Aller Laster Anfang

Günter Eichberger

// Rezension von Karin Cerny

Ansichten eines Flaneurs.

Der Flaneur, wie Walter Benjamin ihn beschrieben hat, spazierte wehmütig durch das von einer Industrialisierungswelle überrollte Paris. Mit jedem Blick wollte er das Flüchtige, das im Verschwinden-Begriffene, erfassen und zumindest für einen intensiven Moment lang festhalten. Der Flaneur des 19. Jahrhunderts war durch und durch ein Großstadtphänomen. Wenn Günter Eichberger seine Textsammlung Aller Laster Anfang im Untertitel Ansichten eines Flaneurs nennt, dann fragt sich, woran bleibt ein Flaneur von heute mit seinem Blick hängen.

Graz, Eichbergers Flanierrevier, ist zwar im Jahr 2003 rege Kulturhauptstadt, richtig großstädtisch war das beschauliche Städtchen wohl nie. Dafür hat Graz lange als Geheimtipp für avantgardistische Literatur herhalten müssen – selbst in Zeiten, als diese schon längst verschwunden und nur mehr als Legende in den Köpfen und Feuilletons präsent war. Ein Flanieren durch Graz-Mythen, Graz-Abgründe und Graz-Alltag: das hört sich spannend an.

Eichberger schlägt gleich zu Beginn einen ironischen Ton an, ein Taugenichts stellt sich vor und bietet den Dienst eines gemeinsamen Spaziergangs an, der uns durch Straßen, Gassen und vor allem Trinklokale führen wird. Gern driftet der Erzähler dabei in goteske Phantasien ab: „In diesem Papierwarengeschäft, stelle ich mir vor, wird einmal die Revolution der Bäume ausbrechen“. Manche der kurzen Texte lesen sich wie Feuilletons, schnell entworfene Graz-Ansichten, die für sich stehen könnten, letztendlich aber oft mit zu leichter Hand geschrieben sind. Es ist eine Art ironisches Graz-Tagebuch, das sich im Witzigsein überschlägt – aber nicht alle Witze sind geglückt und wenn Eichberger seinen Flaneur Kunstkritik üben lässt, dann ist diese ziemlich altbacken und abgegriffen (zum steirischen herbst: „Christine Frisinghelli geht, ihr Werk aber bleibt. Ihre Vorworte in den Programmheften des Festivals werden uns allen schrecklich fehlen. Vielleicht findet sich ein Verlag, der diese gekonnten Parodien auf akademische Sprachmißhandlungen in einer hübsch gebundenen Ausgabe auf den Markt wirft.“) oder geht ignorant im Pauschalurteil an der Sache vorbei. Anscheinend ohne sich besonders mit der Geschichte des österreichischen Filmfestivals „Diagonale“ beschäftigt zu haben, das unter Dollhofer und Wulff nach eher tristen Jahren der Wanderschaft recht erfolgreich in Graz gelandet ist und nicht nur österreichische Filme im Programm hat, läßt Eichberger seinen müßigen Flaneur über den heimischen Film en gros herziehen: „Und was gibt es Neues vom österreichischen Film? Ich schlage vor, wir bürgern […] den finnischen Raucher Aki Kaurismäki ein. Dann könnten wir bei der ‚Diagonale‘ wenigstens einen tollen Film sehen. Unbedingt fordern würde ich eine Franz-Antel-Retrospektive. Er ist der verkannteste Avantgardist Österreichs“. Ungefähr so läuft der Witz in diesem Buch.

Eine Qualität des Buches ist seine konkrete Haltung. Es werden reale Personen, die in Graz lebten oder noch immer leben, beim Namen genannt. Ein „Who is Who“ in Graz. In den Graz-Kontext eingeordnet aber werden sie oft nur in Stichworten. Der verstorbene Literat Gunter Falk, dem der Theatermacher Hubsi Kramar kürzlich eine Gala gewidmet hat, wird als Besucher des legendären Haring-Stammtisches erwähnt. Wer Falk war, was er geschrieben hat, welchen Stellenwert er in der Grazer Literaturclique inne hatte, wird man hingegen ohne Erfolg suchen. Vielleicht ist es ja auch der falsche Ansatz, solche Informationen zu erwarten? Gleichzeitig gibt das Buch an literarischer Fiktion zu wenig her, um nicht eine gewisse Neugierde auf Fakten, Hintergründe und Zusammenhänge aufkommen zu lassen. Günter Eichberger liefert launigen Graztratsch und -klatsch, eine Lokaltour durch die Stadt und Vernissagebeobachtungen. Vielleicht hat der Autor, dessen bisherige Werke weitaus raffinierter und stilistisch konsequenter geformt sind, auch bloß der Müßiggang überfallen. Seine Themen – das literarische Ich und die Biografie als Genre, das gebrochen und verbogen wird, das Authentische, das parodiert wird – findet man zwar auch in Aller Laster Anfang, als Flaneur ist der 1959 geborene Eichberger aber ein wenig zu selbstgefällig und zu ungenau, als daß man mit ihm durch Graz spazieren möchte.

Günter Eichberger Aller Laster Anfang
Textsammlung.
Salzburg, Wien: Residenz, 2003.
154 S.; geb.
ISBN 3-7017-1313-8.

Rezension vom 20.01.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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