#Lyrik

alle tage gedichte

Elfriede Gerstl

// Rezension von Klaus Nüchtern

schaustücke. hörstücke.

Mit der Verleihung des Georg Trakl- und des Erich Fried Preises wird der Schriftstellerin Elfriede Gerstl spät die längst verdiente Beachtung zuteil. Auch wenn sie nicht gerade alle paar Tage in den „Seitenblicken“ vorkommt und nicht unbedingt unter übermäßiger Medienpräsenz zu leiden hat, „die Gerstl“ kennt man.
Es ist anzunehmen, dass Gerstls Bekanntheit als „Figur“ und Hutträgerin diejenige der Schriftstellerin übersteigt: „In manchen Kaffeehäusern haben die Ober schon reklamiert, wenn ich einmal nicht mit Hut erschienen bin: ‚Frau Gerstl – wieso tragen S‘ kaan Huat mehr?'“

Elfriede Gerstl ist mittlerweile einigermaßen erleichtert, wenn sie in Interviews nicht über jene Kopfbedeckungen und Kleider sprechen muss, die mittlerweile in einem eigenen Depot lagern, davor aber jahrelang in mehreren Schichten die Bücherschränke verhängten, was unvorhergesehene Kosten nach sich zog: „Ich musste manche Bücher nachkaufen, weil ich sie nicht mehr gefunden habe.“

Die Aufmerksamkeit, die der 1932 geborenen Schriftstellerin nun in Form des Georg Trakl Preises und des Erich Fried Preises zuteil wird, ist eine späte Genugtuung und doch bloß Ersatz für Beachtung, die ihr zwar von vielen Kolleginnen und Kollegen, nicht aber von einer breiteren Öffentlichkeit entgegengebracht wurde. Larmoyanz ist Gerstl, die in ihrem Aufsatz „Literatur als Therapie“ (1987) kritisierte, dass „eine ungeniert veröffentlichte Weinerlichkeit zu einer neuen deutschen Frauenmode“ geworden sei, freilich fremd. Eine gewisse Bitterkeit kann sie aber nicht verleugnen – und will das wohl auch gar nicht. Ein Thema, das auch in dem Gedicht „vom wünschen“ zur Sprache kommt, das in dem ungeplant rechtzeitig zu den Auszeichnungen erschienenen Band „alle tage gedichte“ enthalten ist: „vielleicht hätts mich vor zwanzig jahren / noch gefreut / etwas beachtung – interviews – der / ganze blödsinn / der schmonzes kostet kraft […]“ (S. 27).

Nur ein toter Dichter ist ein guter Dichter. Und dafür, dass sich die lebenden nicht einfach einen feschen Lenz machen, ist auch gesorgt. Elfriede Gerstl, die in den Jahrzehnten ihrer Existenz als „freie“ Autorin weder das Geld noch die Möglichkeit hatte, für eine Rente einzuzahlen, bekommt von der literarischen Verwertungsgesellschaft „sozusagen gnadenhalber“ eine Art Ersatzpension ausgezahlt. Weil Gerstl aber mit den Preisgeldern von insgesamt 300.000 Schilling zuviel Geld hat, wird ihre Ersatzpension für ein Jahr einbehalten.

Die Existenz einer freien Schriftstellerin, noch dazu einer Lyrikerin, ist mit guten Vorsätzen und schlechten Umsätzen gepflastert. Die ersten Gedichte von Elfriede Gerstl wurden in den „Neuen Wegen“ abgedruckt, einer Zeitschrift, die nur in den Mittelschulen verteilt wurde und dessen Redakteur Friedrich Polakovics 1957 seinen Job verlor, weil er es gewagt hatte, Lautgedichte von Ernst Jandl und Gerhard Rühm zu veröffentlichen.

In den 50er-, 60er- und 70er Jahren hatte Gerstl Zugang zu allen relevanten literarischen Szenen und Gruppierungen, wurde zumindest akzeptiert. Die Position an der Peripherie war ihr möglicherweise gar nicht so unsympathisch, schärfte jedenfalls den Blick für die Mechanik der Macht und die Härte der Hierarchie, die auch in Künstlerkreisen nicht außer Kraft gesetzt respektive aufgeweicht ist.
Als Elfriede Gerstl dann Ende der 60er Jahre nach Berlin ging, geschah das „nicht aus Übermut, sondern weil es mir unmöglich war, eine Gemeindewohnung zu bekommen. Ich habe jahrzehntelang mit meiner Mutter, später auch mit meinem damaligen Mann und meiner Tochter in der kleinen Substandardwohnung gewohnt, in die uns die Nazi-Bürokratie reingesetzt hat und die das demokratische Nachkriegsösterreich als durchaus ausreichend betrachtet hat.“
Berlin war damals Fluchtort für viele Österreicher. Auch Artmann und Rühm lebten dort, „weil es in Wien zu dieser Zeit keine Publikations- und Auftrittsmöglichkeiten gegeben hat.“ Während der Berliner Zeit, in der Gerstl mit dem Zug regelmäßig nach Wien fuhr, entstand auch ihr Montageroman „Spielräume“, der zehn Jahre später, 1977, in der edition neue texte erschien, und 1993 bei Droschl neu aufgelegt wurde. Wie ihre Autorin bewegt sich auch die Protagonistin Grit durch die Berliner Szene(n), beschreibt und reflektiert diese aber zugleich aus der Position der distanzierten Beobachterin. Aus den „Spielräumen“ stammt auch das vielzitierte Wittgenstein-Derivat, das als Motto über Gerstls Schaffen stehen könnte: „Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen.“

Gerstls Literatur verweigert sich dem Präziös-Prätentiösem, kennt keine Scheu vor den Banalitäten des Alltags, muss diese auch nicht erst sprachlich veredeln. Wenn das lyrische Ich ausrutscht, dann rutscht eben auch die Sprache aus – man hat sie schließlich ebensowenig im Griff, wie den eigenen Körper: „mitunter hab ich diesen körper nicht im griff / er kommt mir aus – ich schau verwundert zu / wie ich mich stoss – verbrenn – und wie s mi hinstraat“ (aus: „alle tage gedichte“, S. 28).

Gedichte über den Alltag – „alle tage gedichte“. Ist der jüngste Buchtitel als Arbeitsvorgabe brauchbar? Für eine kurze Zeitspanne – vorzugsweise im Sommer, in dem Gerstl immer am produktivsten ist – lässt es sich schon einrichten. Wichtig ist es bloss, einen Anfang zu finden. „der herzschlag hat den rhythmus / erfunde“, beginnt eines von Gerstls Gedichten, die sich der morgendlichen Arbeitsdisziplin verdanken: „Im Falle der ‚Aufwachgedichte‘ habe ich morgens versucht, die erste Zeile zu schreiben, und wenn man die hat, ist ja schon alles gewonnen: Die gibt dann schon das Thema und den Rhythmus vor. Die erste Zeile gewinnt man manchmal beim Aufwachen, wenn noch nicht alle Kontrollen eingeschaltet sind und mehr Einfälle zugelassen werden und manchmal – wenn ich nicht eingekrampft bin – auch beim Herumgehen in der Stadt.“

Dann muss Gerstl ihre Einfälle aber sofort notieren – zum Beispiel im Kaffeehaus. Wobei sich diese Form einer zugleich nomadisierten wie sesshaften Existenz weniger einer freien Entscheidung als der eigenen Biografie verdankt. Und die kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Als jüdisches Kind lebte Gerstl während der Nazi-Zeit jahrelang als U-Boot auf engstem Raum mit ihrer heute 92jährigen Mutter zusammen: „Ich habe einfach das Wohnen nie erlernt, und Jahrzehnte meines Lebens in Lokalen verbracht. Das waren Fluchtorte. Etwas davon bleibt wahrscheinlich. Ich lade auch ganz selten Leute zu mir und es gibt auch nur ganz wenige, die ich in meine Wohnung lasse.“

Und dass sich die schmerzhafte Vergangenheit erzählend bannen ließe? „Ich glaube, dass es die Leute nur auf diese Traumata fixiert. So wie ich nicht an eine ‚Wiedergutmachung‘ glaube, so glaube ich auch an eine wirkliche ‚Aufarbeitung‘ nicht. Man soll Schulkindern schon erzählen, was in diesem Jahrhundert alles geschehen ist, aber wirklich verändern kann man damit nur die, die sich verändern wollen. Mit der Beeinflussung durch die Literatur ist es ja dasselbe: Es braucht einen riesen Glauben an die Macht des Wortes, wenn man von der Verbesserung durch die Literatur spricht – und den kann ich leider nicht teilen, tut mir leid. Man kann Leute nicht ‚umdrehen‘ und erreicht eben nur die, die veränderungswillig sind und belehrt werden wollen.“

Elfriede Gerstl alle tage gedichte
Gedichte.
Wien, München: Deuticke, 1999.
174 S.; geb.
ISBN 3-216-30474-4.

Rezension vom 26.11.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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