#Sachbuch

Alle Neune

Klaus Kastberger

// Rezension von Alexander Kluy

Wildgans. Billinger. Horváth. Elfriede Gerstl. Oswald Wiener. Peter Handke. Friederike Mayröcker. Elfriede Jelinek. Thomas Bernhard.
Es sind nicht gerade die kleinen Namen, es sind keine poetae minores, die sich Klaus Kastberger für seine klugen Aufsätze, entstanden zwischen 2010 und 2021, aussuchte. Nun sind diese Studien, die in „Volltext“ und in den Grazer „manuskripten“ gedruckt wurden, die für einen Band der Reihe „Profile“ des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek oder einen Ausstellungskatalog des Österreichischen Theatermuseums verfasst wurden wie in weniger leicht auffindbaren wissenschaftlichen Fachpublikationen enthalten sind, etwa in dem von Kastberger und Stefan Maurer feinsinnig edierten Heimat und Horror bei Elfriede Jelinek, in einem Band zusammengefasst. Und, es sei gleich zu Anfang gesagt: Sie sind sorgsam überarbeitet, mit Aplomb zusammengeführt und final kunstvoll alles Vorhergehende rahmend. Denn die Schlussbemerkung gilt Thomas Bernhard und dessen „Vision des literarischen Erbes jenseits der Vorstellung beschrifteten Papiers.“
Und auch darum geht es dem Ordinarius für Germanistik zu Graz.

Einem breiteren Publikum ist Kastberger seit 2019 bekannt geworden, seit seiner Jurytätigkeit bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, die habituell Ende Juni stattfinden; und da aufgefallen ob seiner prägnanten Urteile wie ob seiner schnittigen, gänzlich a-professoralen Slim-Fit-Kleidung, die gern typografisches Dekorum aufweist.
Fast zwanzig Jahre war Kastberger am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek tätig. Das erklärt auch, wieso und weshalb diese Untersuchungen en gros und en détail um Literatur und Mnemosyne, um Schreiben, Aufschreiben und Archive wie um Archivierung kreisen und darum, was Archivierung eigentlich bedeutet und in sich einschließt.
Das ist ganz besonders erhellend im Falle Ödön von Horváths – nur allzu gern schließt man sich seinem Lamento an, dass es bis zum heutigen Tage keine adäquate, wirklich erschöpfende Biografie dieses Autors gibt. Ebenso instruktiv sind die zwei Auftakttexte, in denen Kastberger sich mit sehr zu Recht Vergessenen auseinandersetzt, mit Anton Wildgans und mit Richard Billinger, der eine ein zu spät gekommener Epigone, der andere ein Selbstinszenator einer kreativen Imago, die er, der im Nationalsozialismus Gefeierte, aber fragil (da homosexuell) Lebende, nach 1945 nie mehr ändern konnte noch wollte und daher auch als Schriftstellerkarikatur und in Linz endete (auch wenn er, was Kastberger nicht erwähnt, 1962 den Titel „Professor“ erhielt, im selben Jahr den Grillparzer-Preis und 1965 den Bayerischen Poetentaler der Münchner Autorenvereinigung Münchner Turmschreiber, übrigens gemeinsam mit dem Komponisten Carl Orff.)
Wahrlich nicht jeder Germanist vermag so klar und durchsichtig zu schreiben wie der gebürtige Gmundner. Das hat sich zwar in der Hochschulgermanistik in den letzten 20, 30 Jahre merklich gebessert, vieles jedoch stammt aus terminologisch schwerer Jargonfeder. Bei Kastberger: nichts davon; gleichwertige essayistische Grundqualitäten finden sich eigentlich nur beim Schweizer Peter von Matt. Eindringlich geraten ist ihm seine Meditation über Elfriede Gerstl und die kleine Form, über Kürze und Hungerkunst. Hochinstruktiv, wenn auch intellektuell fordernder ist sein Porträt der zwischen Literatur und Wissenschaft oszillierenden Schreibszenen bei Oswald Wiener. Wobei diese Pole noch zu ergänzen wären um: Verstummen und extensive Extraliteratur. Danach ist Kastbergers Forderung um so einsichtiger – und drängender! –: dass es bis heute kein Gruppenporträt der so genannten Wiener Gruppe gibt. Und dass ein solches zu schreiben überfällig ist.
An Nummer 4 positioniert, dabei ist es eigentlich die unsichtbare Achse, um die die analytischen Texte sich drehen, ist der alliterierende Aufsatz „Acte und Akten: Archive der Avantgarde“. Hier denkt Kastberger über das Archivieren nach, über das Wesen von Archiven als reale Gehäuse der Ordnung wie der Re-Strukturierung (ein Thema, auf das er nochmals bei Mayröcker zu sprechen kommt, deren mit Manuskripten kunstvoll zugemüllte Wohnung in der Zentagasse nach ihrem Tode nur noch auf dokumentarischen Fotografien und in Filmen erhalten ist). Mag man auch anzweifeln, ob es tatsächlich, will sagen: praxeologisch wie intellektuell tragfähig ist, Jacques Derrida diesbezüglich zu zitieren, Kastberger zitiert Derrida hierbei gern und ausführlich. Der Pariser Philosoph (1930-2004) war ja nicht gerade für seine leichthändigen Entertainer-Qualitäten bekannt. Bezeichnend war die Rezeption zu seinen Lebzeiten zweigeteilt, im deutschsprachigen Raum wurde er ab den frühen 1980er Jahren, auch dank des symbolischen Kapitals des Suhrkamp Verlags, stark gelesen und universitär adoriert. Im anglo-amerikanischen Sprachraum war die Kluft größer und das Echo pragmatisch-distanzierter, um nicht zu sagen: verhalten.
Mancher mag in Derridas Überlegungen, die Kastberger teilt, über Archiv, Anarchiv und Archivologie zugleich deren Parodie und Selbstparodie erkennen. Amüsanter Weise war der krebskranke Derrida, bei dem Kastberger sich der Einsicht bedient, ein Archiv bestehe auch aus dem, was nicht im Archiv ist, also im „Anarchiv“, rund drei Jahre vor seinem Tod selber um sein Nachleben besorgt. Einem Journalisten soll er bedrückt gestanden haben, er sei überzeugt, seine Philosophie werde künftighin lediglich von einer winzig kleinen Minderheit gelesen werden. Und soll dies um den desillusioniert-desillusionierenden Satz ergänzt haben: „Nach meinen Tod wird nichts mehr übrigbleiben. Ausgenommen das, was in den Pflichtbeständen der Bibliotheken verwaltet wird.“ Benoït Peeters führte dann ein Jahrzehnt später in einer ausgreifenden Lebensbeschreibung Derrida vor als einen, der mit penibelster Akkuratesse manisch alles aufhob, was jemals von ihm beschriftet worden war – darin sehr ähnlich Karl Jaspers. Derrida dachte also das Archiv automatisch mit. Und unterminierte eo ipso die Idee des Anarchivs.
Zum anderen ist Kastbergers Alle Neune, der punktgenau zu seinem 60. Geburtstag am 19. April vorliegt und der typografisch außergewöhnlich schön gestaltet ist – mit in Rot gesetzten, in unmittelbare Nähe der Zitate gerückten Fußnoten in der Marginalspalte (man wünschte sich lediglich eine etwas stabilere Bindung) und mit fackelrotem Umschlag –, auch in anderer Weise ein verborgenes Archiv. Eines des Lesens und des Lebens. Schließlich diplomierte Kastberger einst über Konrad Bayer, wurde über Friederike Mayröcker promoviert und gibt seit Jahren die Historisch-Kritische Edition der Werke Ödön von Horváths mit heraus. Vielleicht wird sich ja auch im Vorlass oder im Nachlass Kastbergers eine Notiz finden, die den Titel entschlüsselt – denn zehn Aufsätze unter Alle Neune zu subsumieren, zeugt von Ironie. Oder von der Kenntnis Albrecht Graf Wickenburgs? Dieser schrieb in seinem Gedicht „Stephansdom: Alle Neune“: „So oft er in die Vollen schob, / So traf er alle Neune!“

Klaus Kastberger Alle Neune
Zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur.
Wien: Sonderzahl, 2023.
176 S.; brosch.
ISBN 978-3-85449-618-2.

Rezension vom 28.03.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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