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Alle Farben der Sonne und der Nacht

Lenka Reinerová

// Rezension von Barbara Angelberger

Obwohl die 1916 geborene Lenka Reinerová als letzte Deutsch schreibende Schriftstellerin Prags gilt, versteht sie selbst sich nicht als Schriftstellerin, sondern als Erzählerin: „einfach aus dem Grund, weil ich gar nicht das Anliegen habe, mir eine Geschichte von A bis Z auszudenken. Das hängt zweifellos damit zusammen, daß mein Leben so vielgestaltig war und ist, daß ich einen großen Vorrat an Themen habe. […] Es reicht mir, wenn ich das erzählen kann.“

Aus ihrem reichen Erfahrungsschatz nährt sich auch das jüngste Werk der Autorin. Sie setzt sich darin mit ihrer Gefangennahme und Inhaftierung in Prag im Gefolge der stalinistischen Schauprozesse auseinander.

Im Frühling 1952 wird die damals 37jährige vom tschechischen Staatssicherheitsdienst zu Hause abgeholt – ihren Mann und ihr Kind darf sie nicht verständigen; Gründe für die Verhaftung werden keine genannt. Bereits drei Wochen zuvor ist ihr Arbeitsverhältnis im staatlichen Rundfunk aufgelöst worden; damals schon ohne Angabe von Gründen.

Die Autorin, wiewohl seit frühester Jugend überzeugte Kommunistin, scheint aufgrund ihrer Biographie verdächtig geworden zu sein: Deutsch sprechende Jüdin in Prag, in der Zwischenkriegszeit Kontakte bzw. Freundschaften mit aus Nazideutschland nach Prag geflüchteten Emigranten, Exil in Mexiko, Heirat mit einem Jugoslawen, 1948 Rückkehr nach Prag. Das ergibt folgende Verdächtigungsmomente: Hochverrat und Spionage für den Klassenfeind, Kontakte im Westen, Umtriebe in Jugoslawien (Titoismus), Zionsismus. „[…] das alles. Packen Sie ordentlich aus, ich protokolliere, Sie unterschreiben, und wir schicken Sie nach Hause. Klar?“

Reinerová hat nichts zu gestehen; fassungslos versucht sie das Vorgefallene zu begreifen. Vergeblich. Um sich nicht entmutigen zu lassen, sucht sie Zuflucht in ihren Erinnerungen, die sich wie ein Who is Who des deutschen und tschechischen Geisteslebens der Zwischenkriegszeit lesen. Von F. X. Salda, dem berühmten tschechischen Literaturkritiker ist die Rede, von Egon Erwin Kisch, Brecht, John Heartfield u.a. Man erfährt, wie das Leben im Prag der dreißiger Jahre für eine junge, sozial engagierte Frau ausgesehen hat.

Den Negativfiguren der Verhörenden werden immer wieder die Lebensentwürfe von Menschen aus Reinerovás Umfeld entgegengestellt: Menschen, die sich durch besondere Herzlichkeit, gelebte Solidarität oder mutiges Einstehen für ihre Überzeugungen auszeichnen. Durch diese „Fallbeispiele“ und den erzählenden Tonfall mildert Reinerová das Unerträgliche ihrer Situation ab, das „gute“ Ende schwingt von Anfang an mit – wenn der Verhörende etwa mit einer chinesischen Märchenfigur gleichgesetzt wird, die am Märchenende ihre Untaten vor einem Dorfgericht verantworten muss.

En passant nur wird die permanente Anspannung, das „Nicht-wissen-wie-es-weitergeht“, deutlich, nur in Randbemerkungen werden die Demütigungen, denen die Häftlinge ausgesetzt sind, thematisiert: zehn Minuten Zeit haben sie um das Frühstück zu verschlingen; auf ihre dünnen Strohsack-Decken müssen sie den Fetzen, mit dem sie Fußboden und Abtritt wischen, legen; pro Tag werden insgesamt drei Blatt Toilettpapier gewährt – vorausgesetzt die Wachen sind wohlmeinend usw.

Nach fünfzehn Monaten Haft wird Reinerová plötzlich entlassen – wieder ohne Angabe von Gründen. Endlich in Freiheit muss sie auch ihr Engagement für die KP hinterfragen. Dabei bleibt sie aber relativ konturlos. „Daß Stalin und Gottwald gestorben sind. Ja und? Das erklärte doch gar nichts. Vielleicht will man ihnen, weil sie tot sind, die Schuld für alles Geschehene in die Schuhe schieben. Um die Partei zu schonen. Welche Partei? Gab es die überhaupt noch? Wer verbarg sich in Wirklichkeit hinter dieser Bezeichnung? Wer hat diese ganze Katastrophe, die über unser Land und seine Menschen hereingebrochen ist, verschuldet und zugelassen?“ Nachhaltige Anstrengungen, diese Fragen auch zu beantworten bzw. andere zu stellen, unternimmt Reinerová nicht. Dennoch ist ihr Buch ein zeitgeschichtlich interessantes Dokument. Dass die Autorin es vermied, menschliche Abgründe auszuloten, und anstatt zu analysieren, viel vom Guten, zu dem Menschen eben auch fähig sind, erzählt, liegt an ihrem Bemühen „einen Ausweg aus den finsteren Farben der Nacht zu finden“.

Alle Farben der Sonne und der Nacht.
Biografie.
Berlin: Aufbau, 2003.
190 Seiten, gebunden.
ISBN 3-351-02969-1.

Rezension vom 20.11.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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