#Roman
#Prosa

absichtslos

Dieter Sperl

// Rezension von Martina Wunderer

„Aber jede Geschichte muss eine Kraft enthalten, die die eigene Trägheit wie ein Pfeil durchbohrt.“

Wien mit seinen Kaffeehäusern und Restaurants, mit seinen Prachtstraßen und Gemeindebausiedlungen bildet die Bühne für das Auf- und Abtreten der Figuren in Dieter Sperls neuem Roman absichtslos. Allein die österreichische Hauptstadt als Ort der Handlung und ein lose miteinander verknüpftes Ensemble an Figuren verbindet die zufälligen Begegnungen, arrangierten Interviews, misslungenen Essenseinladungen, die hier scheinbar ohne sonstigen erkennbaren Zusammenhang aufgefädelt werden.

Sperl protokolliert Szenen des Wiener Alltags, seine Erzählungen speisen sich aus Erinnerungen an vergangene Begegnungen und Erlebnisse, nächtliche Träume und überwundene Krisen, von denen die unterschiedlich oft wiederkehrenden Figuren – Künstler, Frühpensionäre, Asylbewerber, Angestellte – sich oder einem Gegenüber, das jedoch vorerst nicht der Autor ist, Zeugnis ablegen. Oder sie lassen ihre Träume oder Tagebücher aus einer vergangenen Zeit für sich sprechen, wie in der melancholischen Erzählung „Tristessa incredibile“ (die italienische Lehrerkollegin hatte bestimmt von „tristezza“ gesprochen!).

Die auf diesen Seiten versammelten Zufallsbekanntschaften, Familienangehörigen, Freunde, heimlichen Geliebten, sie teilen sich einander mit, flüchtig, „Zwischen zwei Zigarettenzügen“, am Stammtisch oder bei gemeinsamen Mahlzeiten, sie reden miteinander, aber auch aneinander vorbei – „Ich habe heute echt keine Lust, noch länger Stichwortgeberin deiner unendlichen Monologe zu sein, absolut nicht“, empört sich etwa Hermine Max gegenüber – und doch entsteht in dem Bannkreis des Gesprächs stets so etwas wie Geborgenheit, temporäre Zuflucht vor der drohenden Einsamkeit, von der die erste Erzählung „Rendezvous“ in hilflosen Tönen der Trauer um den Verlust der geliebten Ehefrau spricht.

Ja, es wird vom Tod erzählt, von Obdachlosigkeit und Einsamkeit, von drohendem Wahnsinn und Lebensangst, doch stets scheu, in leisen Zwischentönen, eingebettet in Gespräche über Waldviertelknödel und Avocadocremesuppe, über Turnschuhe und Kätzchen, als könnte der ihnen innewohnende Schrecken durch den profanen Alltag gebannt werden.

Der Leser muss daher schon genau hinhören, damit sich die Kraft der einzelnen Erzählungen zu entfalten vermag, sonst droht es ihm wie Oswald zu ergehen, der sich fragt, „ob dies alles (…) überhaupt erwähnenswert sei“, da kaum eine der Geschichten einen wirklichen Höhepunkt aufweise. Nein, auf eine Klimax steuern die Erzählungen nicht hin, ohne großen Wellenschlag, ohne Spannungsbogen plätschern sie scheinbar harmlos dahin, protokollieren die Meinungen, Wünsche, Beobachtungen ihrer Figuren und bergen doch soviel mehr an Leben, als sie aussprechen. Denn, „ob deine Geschichte Höhepunkte aufweist oder nicht, das Leben ist sowieso eine Linie, ohne Auf und Ab, mit der wir uns, wenn wir ehrlich sind, nicht einmal vorwärtsbewegen,“ gibt Gerlinde zu bedenken. Erst in der Rückschau, erst durch Nachfrage anderer genötigt, „würden wir uns eine Richtung dafür ausdenken, der Geschichte erst eine Wendung geben.“

In ihren Zwiegesprächen und (inneren) Monologen geben die Figuren nicht nur Erlebtes wieder, vielmehr eignet ihrer erinnernden Rückschau ein schöpferisches Moment, indem die vergangene Wirklichkeit erzählerisch gestaltet wird. Noch im Sprechen regen sich bei den einzelnen Figuren bereits gewisse Zweifel über die Verfügungsgewalt über diese vergangene „Wirklichkeit“, denn möglicherweise, so munkelt etwa Dominik „hatte das alles so nicht wirklich stattgefunden, hatte sich eine für seine gegenwärtigen Zwecke präferierte Sicht dieser seiner Vergangenheit in ihm geformt.“

Diese Ambivalenz wiederholt sich auch auf der formalen Ebene des Romans, immer dann, wenn sich das Schriftbild ändert oder wenn sich Sperl der rhetorischen Stilmittel der indirekten oder erlebten Rede bedient. Dadurch, dass dabei das Aussagesubjekt (anders als bei der direkten Rede) in die dritte Person verschoben wird, überlagern sich die Stimmen der einzelnen Erzähler, in einer weiteren Drehung der Schraube auch mit derjenigen des Autors. Besonders kunstvoll ist dies Thomas Bernhard, auf den Sperl an einer Stelle seines Romans ausdrücklich verweist, in „Gehen“ gelungen, wo die verschiedenen Aussagen der Figuren doppelt bis dreifach gebrochen wiedergegeben werden.

Durch diese ausgeklügelte Form werden auch die scheinbar absichtslos vorgetragenen Erzählungen wieder aus der alltäglichen Gesprächssituation herausgelöst und auf eine höhere Reflexionsebene gehoben, die genaues Lesen verlangt und dadurch die Aufmerksamkeit auf das Mehr an Bedeutung lenkt, das sich hinter den Gesprächen über kulinarische Genüsse verbirgt, auf genau diejenigen Sätze, die den Schriftsteller Lucas Pall – vielleicht alter ego des Autors? – bewegen, sein Schreibgerät doch nicht beiseite zu legen, auf Sätze, „die notwendige wären und dennoch flüchtige blieben.“

absichtslos.
Roman.
Klagenfurt, Wien: Ritter, 2007.
136 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85415-414-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 22.01.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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