#Prosa

Abschied vom Spiegelbild

Wilfried Ohms

// Rezension von Karin Cerny

Den Anfang macht der Tod. Ein Anruf früh morgens, der Erzähler erfährt, dass sich sein Zwillingsbruder Christian in Afrika umgebracht hat. Die Nachricht kommt nicht wirklich überraschend für ihn, und doch setzt sie einen Nachdenk- und wohl auch den Schreibprozess in Gang. Wie war es eigentlich, als man gemeinsam aufwuchs, als eineiige Zwillinge, und niemand konnte die beiden Jungen auseinanderhalten? Wann begannen sich die Wege der beiden Doppelgänger zu trennen? Ohms verschränkt in seiner Erzählung ganz klassisch Erinnern und Verabschieden miteinander. Schreiben und Erzählen findet statt, um sich letztendlich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien. Von der tristen Kindheit ebenso wie vom geliebten und auch bewunderten „Spiegelbild“. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Reflexionsprozess durch das Buch, das letzte Wort des Textes aber lautet „Ja“. Und der Erzähler beschließt weiterzuleben.

Große innere Kämpfe des Erzählers oder gar Psychopathologie wie in David Cronenbergs Film „Die Unzertrennlichen“ darf man sich von Wilfried Ohms allerdings nicht erwarten. Der Ton seiner Erzählung ist eher unterkühlt, die Sätze sind ausgehungert, und der Erzähler, über den man gerade so viel erfährt, dass man annehmen kann, er führt wohl ein durchschnittlich langweiliges gutbürgerliches Leben, ist nicht sonderlich aus dem Konzept gebracht durch den Tod seines Bruders. Er hat in Wien Medizin studiert und schreibt auch so. Eine Art Fallbeschreibung, verfasst mit der nötigen Distanz. Vieles bleibt dadurch ein wenig flach und auswechselbar.

Die Lebenswege der beiden driften bereits in der Pubertät auseinander. Christian stürzt sich ins Klavierspielen und macht schnell Fortschritte. Eine große Karriere wird ihm prophezeit, von den Eltern aber sofort im Keim erstickt. Man erkennt eher an der Thematik denn am Sprachduktus Ohms‘ Nähe zur Prosa von Thomas Bernhard, an dessen Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ sich sein letzter Roman „Kaltenberg. Ein Abstieg“ deutlich und gewollt angelehnt hat. Die Familie ist auch diesmal wieder die Wurzel allen Übels. Die Eltern herrschen despotisch. Und die Spätfolgen sind verheerend. Die Sympathie ist natürlich auf Seiten der in ihrer Entwicklung gehemmten Jugendlichen.

Ohms findet einen souveränen Sprachrhythmus, fast zu souverän für seine Thematik. Als Psychogramm, wie es der Verlag ankündigt, überzeugt der Text allerdings nur bedingt. Beleuchtet wird im Grunde weniger der aus dem Leben getretene Bruder, über dessen Ausschweifungen und Selbstzerstörung man viel erfährt; die knappe Sprache erzählt wohl auch von der Gefühlsarmut des Überlebenden. Er spricht, trotz gleichen Alters, aus der Perspektive des jüngeren Bruders, der ein wenig neidisch ist auf den wilden großen Bruder, aber gleichzeitig froh ist über sein gesichertes Familienleben. Manchmal hätte man gerne ein bisschen mehr Verzweiflung oder deutlicher dargestellt, dass Fehlen von Verzweiflung im Grund eine noch schlimmere Art von Verzweiflung ist. Oft beginnt man beim Lesen zu überlegen, was wohl der tote Bruder über seinen braven lebenden Bruder zu erzählen gewusst hätte. Letztendlich interessiert Rebellion doch mehr als Resignation und Gutbürgerlichkeit.

Wilfried Ohms Abschied vom Spiegelbild
Erzählung.
München: C. H. Beck, 2000.
125 S.; geb.
ISBN 3-406-46575-7.

Rezension vom 21.08.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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