Denn das Leben dieser gerne belächelten Frau hat wesentlich mehr Facetten und ist vor allem auch für die Geschichte der Frauenemanzipation viel aussagekräftiger, als man gemeinhin annimmt. An geschlechtsbedingten Hemmnissen und Widerständen war das Leben Bertha von Suttners reich, und viele ihrer Strategien, dagegen anzukämpfen – zum Beispiel das Ausweichen auf die bürgerliche Vereinskultur, da ihr das aktive wie passive Wahlrecht als Frau noch verwehrt war – haben bis herauf in die jüngste Vergangenheit zu falschen Interpretationen geführt.
Die Ethnologin und Georgienkennerin Maria Enichlmair richtet ihren Blick auf die Person der jungen Bertha von Suttner, auf die Entwicklung, die ihrem Friedensengagement voranging. Der Untertitel Die unbekannten Georgien-Jahre ist zwar ein wenig irreführend, da diese eigentlich nur die Hälfte des Buches ausmachen, aber es ist zweifellos die spannendere Hälfte. Dass Enichlmair über die Jugendjahre der 1843 in Prag geborenen Gräfin Bertha von Kinsky im wesentlich nur Bekanntes referiert, ist weniger als Kritik an Enichlmair zu sehen, denn als Lob an Brigitte Hamann, deren 1991 vorgelegte Suttner-Biografie nach wie vor unübertroffen ist.
1876 heiratete die Gouvernante Bertha Kinsky heimlich Arthur Gundaccar Suttner, den Sohn ihres ehemaligen Dienstherrn. In ihren Wanderjahren am Rande der großen Gesellschaft hatte sich Bertha mit der Fürstin von Migrelien (heute zu Georgien gehörig) befreundet, und dorthin geht die Reise der beiden illegal Liebenden, aus der eine zehnjährige Verbannung wird. Auch wenn Enichlmair für diese Lebensphase des Ehepaars Suttner ein größerer Fund in Form von Tagebüchern, unbekannten Briefschaften etc. nicht gelungen ist, zeichnet sie mit ihren Recherchen vor Ort, ihrer Kenntnis der historischen Zusammenhänge und auch mit einzelnen neu aufgefunden oder erstmals ausführlicher zitierten Briefen doch ein spannendes und in einigen Zügen klareres Bild von Suttners Abenteuer-Jahren. Zu den neuen Funden zählt etwa ein Brief des ebenfalls im Kaukasus lebenden Berliner Zeitungsherausgebers Heinrich Weth, aufgefunden in der Österreichischen Nationalbibliothek. Und die Autorin geht mit diesen kleinen neu aufgefundenen Bausteinen sehr nobel um. „Daraus könnte man schließen, dass die Suttners doch mehr Kontakte im Kaukasus pflegten, als etwa Hamann in ihrer Biografie angenommen hat“ (S. 86). Dieser leise Ton einer jungen Wissenschaftlerin gegenüber einer arrivierten Vorgängerin, fällt im heutigen Betrieb sehr angenehm auf.
Neue Perspektiven entstehen auch dadurch, dass Enichlmair systematisch sowohl die spärlichen ethnografischen Berichte Bertha von Suttners wie auch die zahlreicheren von Arthur Suttner und auch dessen ethnografischen Romane auswertet und analysiert. Ein schmeichelhaftes Bild der beiden Weltenreisenden ergibt sich daraus nicht: von Offenheit, Interesse und Verständnis für Land und Leute ist da wenig zu spüren, dafür viel von Klischees und Vorurteilen. So mag es doch tatsächlich Unlust gewesen sein, dass Bertha von Suttner kaum Berichte aus Georgien lieferte, obwohl die Redaktionen immer wieder danach verlangten.
Enichlmairs Buch ist zweifellos eine wichtige Ergänzung zum bislang bekannten Bild Bertha von Suttners und eine lohnende Lektüre, auch wenn sich einige Wiederholungsschleifen – der häufige Preis des Cut-and-Paste-Segens – eingeschlichen haben. Und beginnen sollte man die Lektüre vielleicht mit den konkreten Georgien-Kapiteln. Die einleitenden kulturwissenschaftlichen Abschnitte und Einordnungsversuche sind ein wenig tertiär geraten und etwas verschlungen. Das mindert nicht das Verdienst der großen Sorgfalt bei den Suttner direkt betreffenden Recherchen.
„Hätte sich Bertha von Suttner auf die Veröffentlichung ihrer wenigen anspruchsvollen Publikationen beschränkt, […] wäre sie vielleicht in die Literaturgeschichte eingegangen“ (S. 29), meint Enichlmair zum literarischen Werk Suttners, das sie über viele Jahre hin als bloßen Broterwerb mit billig produzierter Massenware betrieb bzw. betreiben musste. Diesem Urteil ist prinzipiell zuzustimmen, doch will mir scheinen, dass man auch die unter ungünstigen Bedingungen produzierte Massenware der frühen Autorinnen des 19. Jahrhunderts so rasch nicht wegwischen sollte. Auch in den unteren Schubladen schmuggelten diese Autorinnen noch verborgene Kommentare zur Geschlechterfrage ein. So durchzieht etwa in Suttners berühmtem Roman „Die Waffen nieder!“ keineswegs nur die Friedensthematik das ganze Buch, sondern auch die Frage der sozialen Rolle der Frau. Ein Streitgespräch Marthas mit dem väterlichen Familienpatriarchen, der seinen Enkel mit Kriegsspielzeug versorgt, provozierte anno 1889 wohl nicht nur wegen des Inhalts, sondern mehr noch wegen der Tatsache des Widerspruchs und des dabei angeschlagenen selbstbewussten Tons der jungen Frau.