#Essay

Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Janko Ferk

Verschiedene Zeiten, viele Länder

Karl-Markus Gauß hat mit der Abenteuerlichen Reise sein bisher bestes Buch geschrieben. Es ist elegant, kenntnisreich, spannend und offen, aber nie indiskret, obwohl es – auch – um familiäre und höchstpersönliche Einzelheiten beziehungsweise Lebensausschnitte geht. Damit korrespondiert das Motto, das er Xavier de Maistres „Reise um mein Zimmer“ aus dem Jahr 1795 entnommen hat: „Man möge mir nicht vorwerfen, ich verlöre mich in Einzelheiten; Reisende machen das so.“

De Maistres weit über zweihundert Jahre altes Buch dient Gauß gleichsam als Vorlage beziehungsweise Modell für seine eigene Reise, die ihn nicht nur durch ein Zimmer, sondern durch seine ganze Wohnung führt, das heißt durch verschiedene Zeiten und viele Länder. Auch Xavier de Maistre „ist weit herumgekommen, aber nirgendwo weiter als in seinem eigenen Zimmer.“ De Maistres Buch war eine Parodie auf die zeitgenössischen Reiseberichte, Gauß meint es ernst…
Für Freundinnen und Freunde der Numerik sei festgehalten, dass de Maistres Buch, auf das sich „sein literarischer Ruhm gründet“, „nicht einmal hundert Seiten“ umfasst, das gegenständliche aber nicht weniger als 220. Der französische Autor hat es jedoch auf 42 Kapitel gebracht, Gauß hingegen „nur“ auf 38.
Was Karl-Markus Gauß über seinen Kollegen notiert hat, gilt uneingeschränkt auch für ihn: „Es sind jedenfalls gezählte, meist einfache Gegenstände, die er beschreibt – und es ist die ganze Welt, die er damit zu seinem Thema macht.“ Gauß rezensiert das Buch seines Vorgängers gleichsam, wenn er die Genese seines eigenen erklärt. Wohl der Vollständigkeit wegen verweist er auf Sophie von La Roche und ihr Buch „Mein Schreibetisch“, das vier Jahre nach de Maistres Band in Leipzig erschienen ist.
Gauß‘ Wohnung „hat zwei Etagen und ist ein umgekipptes Schiff“, sie „hat etwas Extrovertiertes und etwas Introvertiertes“, jedenfalls kann man aus ihr in die „große Welt“ gelangen. Sozusagen ohne Grenzen. Vor allem geistige. Gleich zu Beginn der „Abenteuerlichen Reise“, die tatsächlich eine solche ist, stellt der Reiseschriftsteller klare Normen her: „Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man ohne sie nicht aus.“ Es geht ihm aber nicht nur um Dinge, die einem fehlen würden, sondern auch um Menschen, seien es nun der einzige Förderer, Bekannte, Freunde oder Personen, die einem begegnen.
Das erste Ding, das eine Geschichte bekommt, ist ein alter Brieföffner. Der Leser staunt, welche Assoziationen mit einem solchen Gegenstand literarisiert werden können. Der Ausflug führt weiter über Briefe und das Warten zunächst nach Südtirol, in die Ursprungsheimat des Schwiegervaters, inklusive Meran mit seiner „Promenadenordnung“, die sogar „das Aufwirbeln von Staub durch nicht fußfreie Kleider der Damen“ einfach untersagt hat. (Im Übrigen war der Schwiegervater „ein großer Reisender“.) Hier wird die Geschichte des „übergeschnappten Geographielehrers“ Ettore Tolomei dokumentiert, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Südtirol „alle nichtitalienischen Namen bis zum Alpenhauptkamm auszutilgen“. In die Geschichte eingegangen ist Tolomei jedenfalls als Ortsnamenfälscher. Der Name, der dann folgt, ist ein glücklicherer: Klaus Stiller. Ein Dichter, der verstummt ist.
Zwischen den Stationen der Reise stellt Gauß fest, ohne sich zu beklagen: „Mein Leben lang habe ich es zu keinem Arbeitszimmer gebracht“, wozu nebenbei bemerkt sei, dass die gegenständliche Wohnung, die auch für zehntausend Bücher als solche firmiert, wohl in ihrer Gesamtheit ein angenehmer Arbeitsplatz ist, und zwar ohne „Büro- oder Anwesenheitspflicht“.
Der Schreibtisch wird in diesem Umfeld zum beschriebenen Hauptgegenstand, an dem der Autor über seine Vorfahren, namentlich Melchior Gauß, den Donauschwaben aus der Batschka aufschlussreich sinniert. Zum ersten Mal lese ich über die „Ulmer Schachtel“ und erfahre, um welch höchstgefährliches Ding es sich handelt. Weiter geht es mit Onkel Hugo, der Großmutter und einem alten Hemd.
Danach folgt ein – anders will ich es nicht nennen! – sehr schönes Kapitel über den Maler Herbert Breiter und seine Ehefrau Burgi, die einzige Tochter des – wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus – umstrittenen Kärntner Künstlers Switbert Lobisser. Gauß ruft Breiter nach, dass er sein einziger Förderer gewesen sei, neben dem er keinen anderen gebraucht habe. „Der großzügigste Mensch, dem ich je begegnet bin, der Maler, dessen Großzügigkeit mir im Leben vieles erleichtert hat“.
Die Zusammenstellung der Kapitel wirkt eigenartig, dennoch fügt sich eines in das andere. Ohne Bruchlinien. Auf Breiter, beispielsweise, folgt die Tassensammlung. Und dann die Duschhaubenkollektion. (Karl-Markus Gauß ist vielleicht der einzige Duschhaubensammler der Welt.) Dazwischen wird der Zeichner F. genannt und es kann nur Paul Flora gemeint sein. Weiter geht es, und zwar ohne Brüche, mit seinen Breiter-Bildern – 34, davon 27 kleine, hängen an den Wänden. Es entspricht der Logik einer klassischen Schriftstellerwohnung, dass den Bildern die Bibliothek folgt. Einleuchtend, dass seine Bücher „mit Randnotizen, Unterstreichungen, Rufzeichen“ übersät oder versehen sind. Wie auch immer. Dabei und später auf der Reise fallen naturgemäß ein paar Dichternamen: L. H. für Ludwig Hartinger, Ali Podrimja ausgeschrieben, ebenso Joe Kemptner, Albert Ehrenstein, Charles Sealsfield und so weiter.
Zur „Abenteuerlichen Reise“, einer Art Autobiografie in Fragmenten, aber mit positiver Konnotation, fallen mir zwei Begriffe ein: Spannung und Sprache.
Das Buch lädt zum Verschlingen ein, lesen sollte man es aber gemütlich, sozusagen adagio, um es in seiner Vielfalt tatsächlich zu erfassen.
Karl-Markus Gauß gebraucht eine einfallsreiche und ungemein genaue Sprache. In seiner Hand gerät das Deutsch zu etwas Geschmeidigem. Die Feinheit seiner Dichtkunst äußert sich auch im Gebrauch von Wörtern, die man nicht jeden Tag schreibt oder liest und die trotzdem nicht veraltet sind.
Und noch eines: Aus diesem Buch könnte man viele gescheite Zitate herausschälen. „Natürlich spricht aus der Literatur nicht der Geist einer Nation, sondern ein Individuum, das sich mit seinem Staat und seinen Landsleuten durch nichts als heftige Abneigung verbunden fühlen kann“. Oder: „Der Kulturindustrie taugt alles zum Dekor.“ Und, und, und.
Karl-Markus Gauß selbst bezeichnet sein Buch als Reisebericht. Es ist um ein Vielfaches mehr, es ist eine Land-, Lebens- und Glücksbeschreibung in einem.

Karl-Markus Gauß Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer
Reisebericht.
Wien: Zsolnay, 2019.
220 S.; geb.
ISBN 978-3-552-05923-8.

Rezension vom 06.04.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.