#Lyrik

374

Stefan Feinig

// Rezension von Evelyn Bubich

Am Beginn von Stefan Feinigs epischem Langgedicht 374 steht eine Nummer, die der Ich-Erzähler aus einer »kleinen elektronischen / Plastikschachtel« zieht. Schnell macht sich Beklemmung breit, die Wartesituation auf dem Arbeitsamt verrät ihre Aussichtslosigkeit, »[n]icht einmal einen beschissenen Namen / darf ich hier haben«, das Subjekt bleibt namenlos.

Denn ist es nicht so: Die Zahl steht über den Dingen, nur an ihr lässt sich der Erfolg messen. »Nur mithilfe der Lohnarbeit« wird »die Wichtigkeit meiner Existenz« bewertet, die Existenz selbst wird marginalisiert und in den Gehäusen von Apparaten, die wie auch immer geartet sind, zermalmt; erst entwertet, dann zermahlen in den Mühlen des Kapitalismus. Und wie die Walze, die einem solchen System als logisch konsequente Vorrichtung dient und die alles plättet, das sich ihr nicht groß und stark und vor allem erwerbstätig, arbeitsam, einer Funktion dienlich entgegenstellt, hält sich nun auch das Ich-Subjekt, »vom System gefickt«, mit seiner prosaischen Litanei nicht mehr zurück und verleiht seiner Kritik an der Leistungsgesellschaft Ausdruck:

»Und schlussendlich: / haben wir uns in das verwandelt, / was die wollen, / dass wir sind. / Roboter.«

Der Sprachduktus ist nüchtern-aggressiv, als Leser/in fühlt man sich direkt angesprochen. Die ironisch behafteten Zeichnungen von Stephka Klaura kontrastieren den Zustand, in dem sich das lyrische Ich nun in Rage redet: Ein Kumulat aus negativen Gefühlen, gespeist aus Frustration und Enttäuschung, Isolation und Mutlosigkeit macht einen Bewusstseinszustand deutlich, der von der Ohnmacht zeugt, diesem System noch etwas Produktives entgegenzusetzen, prangt der Stempel des Versagt-Habens einmal auf der Haut. Dann kann der Prozess der Stigmatisierung nur mehr weiter voranschreiten; er durchdringt alle Hautschichten, klammert sich erst an die oberflächlichen, später an die tiefen Faszien der Seele. »Selbstmord!?« als Ausweg? Doch das Ich-Subjekt hat dem noch im selben Atemzug etwas entgegenzusetzen, denn »[n]ur die wohlstandsverwahrlosten, reichen / Bubis bringen sich um«. Es krankt an der Gesellschaftsordnung, die dem Menschen seinen Wert erst strategisch zuweist, wenn dieser sich nützlich gemacht hat, nicht am Menschen selbst. »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«, schreibt Marx in seinem Manuskriptkonvolut Die deutsche Ideologie, entstanden in den Jahren 1845 bis 1846, nie in Buchform erschienen. Es ist das gesellschaftliche Sein, das bestimmt, wer und was man ist.

»Ich schaffe es nicht / die Leute ernst zu nehmen«, wird dem Ich-Subjekt, das sich selbst nicht mehr ernst nehmen kann, bewusst – zumindest das »Ich« hat sich im Text noch nicht aufgelöst. So zeigt es mit dem Finger auf andere: eine weinende Frau, die aus einem der Zimmer herauskommt, einen Mann, der sich auf den Platz daneben setzt, »[i]rgend so ein Abschaum / […] / Oder wie auch immer man diesen Typen / Gesindel so nennen kann«. Die Schimpftirade bricht nicht ab, im Gegenteil, nun richtet sich das Unvermögen, in dieser Gesellschaft ein vollwertiges Mitglied zu sein, in seiner Ausweglosigkeit gegen das Gegenüber, das Nebenan. Ein wenig erinnert das Setting des Vorzimmers am Arbeitsamt an das No-Exit-Szenario im Drama von Sartres Geschlossene Gesellschaft, will man rein auf das Dilemma der menschlichen Existenz und den Mangel an Empathie und Solidarität anspielen; allerdings sind hier die handelnden Figuren bereits tot. Feing knüpft jedoch am Leben an, macht dieses zum Thema seiner Dichtung. Angelehnt an den marxistisch bzw. kommunistisch beeinflussten Philosophen und Autor Alain Badiou versteht auch er Poesie als Mittel zum Aufruhr, zur Empörung, um Missstände aufzuzeigen – »Poesie als Subversion der Kreativität, die die Macht der Bildmaschine und ihr Imaginäres brechen soll«, wie der Rezensent Richard Utz über dessen Werk Pornographie der Gegenwart aus dem Jahr 2014 schreibt. Hier sind wir auch wieder bei Feinig selbst, der seinem Band einen Satz aus dem oben genannten Text als Motto voranstellt: »Lassen Sie uns also, wenn wir wissen wie, aber wir wissen es immer ein wenig, solche Gedichte und Bilder entwerfen, die keines unserer unterdrückten Begehren erfüllen. Entwerfen wir die poetische Nacktheit der Gegenwart.« Dies legt den Schluss nahe, dass Feinig mit 374 dem Ruf nach der poetischen Nacktheit nachkommt und ein sozial realistisches Erzählgedicht vorlegt, das beeinflusst von der marxistischen Theorie der Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft auch Anleihen bei dem russischen Revolutionsdichter Wladimir Majakowski und seinem Langgedicht 150 000 000 (1919/20) nehmen könnte. Im Gegensatz zu Feinigs 374, die das Ich-Subjekt zu einer willkürlichen Nummer degradiert und so von seinem Individuum entkoppelt, sind es bei Majakowski die 150 Millionen Individuen, die brüllend eine Stimme der Revolution erheben:

»150 000 000 / heißt die aus meinem Munde / redende Menschenmasse.«

Eine weitere Lesart geht so: ein lauter Appell an die Menschlichkeit, die nach keiner bestimmten gesellschaftspolitischen Ideologie verlangt, solange der Mensch seinen Mitmenschen als »Bruder« und als »Schwester« begegnet.
Das Ich-Subjekt kommt nach dem »Sturm«, in den es bereits hineingetapst ist –

»Wenn wir uns doch zusammenschließen / könnten. / Vielleicht könnten wir dann /etwas ausrichten / Wir könnten loslegen, / wie ein Sturm / und diese Ficker wegfegen / wie nichts.«

–, wieder zu sich, und auch die 375 sollte in 374 noch eine Rolle spielen; noch gibt es Hoffnung, noch hat man seinen Nächsten nicht ganz abgeschrieben.

»Das Leben geht weiter. / Unerbittlich. / Doch ich bleibe / neben dem Wahrhaften, / mit meiner Hand auf seiner Schulter.«

Stefan Feinig 374
Poem.
Klagenfurt: Mohorjeva Hermagoras, 2021.
120 S.; brosch.
ISBN 978-3-7086-1142-6.

Rezension vom 29.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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