#Roman

365

Doris Mayer

// Rezension von Bernd Schuchter

Endzeitstimmung
Doris Mayers leicht beklemmender Katastrophenroman 365

Alles beginnt mit einem Mord, der sich erst nach der Lektüre von Doris Mayers Roman 365 erklärt, wie überhaupt rückwirkend einiges einleuchtender erscheint. Mayer hat keinen Krimi geschrieben, sondern eine verschachtelte Geschichte rund um acht Personen konstruiert, denen man episodenhaft und ein wenig atemlos bei ihren Wahrnehmungen und Handlungen folgt.

Der Plot sieht als Versuchsanordnung eine Welt vor, in der die Menschen von einem Moment zum nächsten erstarrt sind, die Welt steht still. Es funktionieren weder Autos noch elektrische Geräte, alles ruht. Nur ein paar voneinander unabhängige Personen können sich bewegen und versuchen, sich in diesem plötzlichen Albtraum zurechzufinden. Sie haben keine Namen, denn in so einer Welt sind Namen bedeutungslos – der Junge, die Rothaarige, die Frau, der Bärtige, das Baby, der kleine Junge, die ältere Frau, der Mann – es sind exemplarische Charaktere, die Doris Mayer hier vorführt und sie gehen allesamt in ihren Handlungen der Frage nach, was eine Extremsituation aus Menschen macht, wie sie sich verhalten. Werden sie zügellose Tiere, empfinden sie Mitleid, Freude, Trauer, kümmern sie sich um den nächsten, sorgen sie sich und immer wieder die Frage nach dem Sinn: warum leben sie weiter, während doch alles sinnlos ist. Es drängt sich der Eindruck auf, Doris Mayer spüre dem genuin Menschlichen nach, dem Typus.

Aber Moment, das klingt sehr bekannt. Thomas Glavinic hat etwas Ähnliches versucht und Marlen Haushofers Die Wand scheint der Paradefall für das Genre zu sein. Endzeit im Versuchslabor statt Literatur über Schriftsteller, die über das Schreiben nachdenken, der zweite Paradefall. Aber so einfach ist das nicht, der Unterschied liegt im Detail.
Das beginnt schon bei Doris Mayers Sprache und Erzählhaltung. 365 ist geradezu telegrammartig geschrieben, erzählt wird wie in Regieanweisungen. kurze Sätze, alles wird beschrieben, jede Handlung, jeder Schatten, jedes Blatt, das beobachtet wird. Jedes Keuchen, jedes Bellen (es kommt auch ein Hund vor), jedes Schwitzen, jedes Ärgern und Trauern und Ekeln und jeder Satz und Halbsatz und jeder Gedanke und Halbgedanke bis in die Träume und die Vorstellungen hinein. Das ist sehr plastisch, sehr intensiv. Doris Mayer ist ihren Figuren sehr nah, möchte man sagen, und die Figuren ihrer Rolle. Die Erzählweise erinnert mehr an ein detailgenaues Drehbuch, Bilder entstehen und lassen nichts zwischen den Zeilen, kein Raum für Spekulationen. Ein Roman, der bereits die Verfilmung mitdenkt. Es ist eine sehr filmische Technik, auch in den Bildern, mit der Doris Mayer vom Außergewöhnlichen schreibt und Bilder lügen nicht, reine Beschreibung ist ungeschminkt, auch hier also das Exemplarische, das exemplarisch Menschliche auf Bewährung, auf Probe im Versuchslabor. Sehr eindrücklich.

Aber auch das hat man in den letzten Jahren vielleicht ein wenig zu oft gesehen. Endzeitfilme. Im Sinne von wirklich gesehen, denn Filme wie 25 days after, I am legend, Resident Evil und andere zeigen gerade dieses Exemplarische in Cinemascope, angereichert mit Action, und dort gibt es zusätzlich noch eine reale Katastrophe, ein Virus, eine Epidemie, und die Welt spaltet sich in Überlebende und Zombies. Zombies gibt es bei Doris Mayer nicht, nur Erstarrte, deren Haut sich wie Porzellan anfühlt.

Und die Tiere? Es gibt einen Hund und eine Maus, die beide eine gewisse Rolle spielen, aber eher ihrem Typus entsprechend. Der Hund ist sehr hündisch und bellt in einem fort, die Maus ist recht niedlich und stupsnast sich durch die Welt. Wie überhaupt der Typus eine tragende Rolle zugewiesen bekommt. Typus, nicht Klischee, nicht Vorurteil, wenngleich Bärtige, die zu Gewalt neigen, ein Klischee sein könnten. Auch ältere Frauen, die sich um kranke Buben kümmern, eventuell auch junge Karrierefrauen, die bei einem Baby ihre Mutterinstinkte entdecken und alles liegen und stehen lassen. „Mein Kind!“ Rastalockige, die das Herz am rechten Fleck haben, möglich, ein Aktienhai, der seine Menschlichkeit im Verlust entdeckt, definitiv.

Was noch? Ach ja, der Zauber, der über dem Schloss Welt lag und alle Menschen schlafen ließ, wird durch einen Kuss des Prinzen aufgehoben, es folgt ein Unwetter, eine Finanzkrise, auch daran hat man sich gewöhnt, ein paar Tränen, keine Zombies, auch am Ende des Buches nicht. Das exemplarisch Menschliche zeigt sich kaum in großen Gesten, eher in traumatischer Angst. Doris Mayers Figuren, und das ist wirklich ein wenig rätselhaft, sind in erster Linie Zauderer, die mit ihrem eigenen, bisherigen Leben nicht wirklich zufrieden sind. In die Extremsituation geworfen, müssen sie sich ändern, anpassen, die kollektive Erstarrung als Sinnbild fürs eigene eingefahrene Leben. „Es gibt keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern“, schreibt dazu Rilke. Obwohl die Welt für sie ein einziger Bauchladen ist, drücken sich alle Figuren voll Scheu an den Erstarrten vorbei, sind höflich, knabbern ein paar Kekse und leiden still vor sich hin. Am Ende kämpfen sie, aber erst am Ende. Außer dem Bärtigen natürlich, aber der ist ein Bösewicht.

Doris Mayer 365
Roman.
Wien: Picus, 2010.
223 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-662-9.

Rezension vom 30.04.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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