#Roman
#Prosa

feuchtes holz

Sophia Lunra Schnack

// Rezension von Franz Schörkhuber

vom fortdauernden fallen der gefallenen

Es gibt Bücher, die man zuklappt in der Gewissheit, etwas erschlossen bekommen zu haben, wozu sonst der Zugang fehlt; die einem, und sei es bloß auf Dauer des Lesens, Zusammenhänge als verbindlich, als seltsam triftig erscheinen lassen, für die landläufige Denke sowenig Sensorium hat wie methodische Wissenschaft. Über solche Bücher zu schreiben, bleibt immer ein Stück weit fragwürdig.

Was sie als Dichtungen glücken lässt (und wodurch wir mehr zu sehen vermögen), ist gerade das, was sich objektivem, äußerlich bleibendem Zugriff entzieht. Wer das Erkenntnispotential gelingender Poesie durch anderes als sie selbst ausweisen möchte, verkauft sie in aller Regel zu billig: Auf den Begriff gebracht, verliert das Geschaute seine Dringlichkeit und wird schal.

Der Gattungsbegriff „Roman“ wirkt auf den ersten Blick deplatziert, besteht feuchtes holz doch größtenteils aus Strophen, adressiert an ein „du“, durch welches die Autorin die Leserin:in mit in ihre Betrachtungen zieht: „nicht festzuhaltenden momenten / materialität verleihen sie / verdoppeln / real machen im / schreiben / damit dein sein sich anpasst / an das halten / um zu schreiben / an das schreiben / um zu halten“ (S. 318).

Zwar gehen die lyrischen Gebilde zuweilen über in prosaische Passagen, doch bleibt auch in ihnen der evokative, schwebende, musische Tonfall erhalten, der Denken, Betrachten und Fühlen der Erzählerin gegenwärtig hält (was sich vor allem der Aussparung von Hilfszeitwörtern verdankt): „Beim Gehen über Wiesenwege deiner Kindheit siehst du es jetzt, dieses erst recht. Also nicht den Gegensatz, sondern dass hier erst recht, in dieser Idylle, die ideale Kulisse für Volkstum und Heimattreue. Dass hier wie gerufen das Brauchtum, missbrauchend gepflegt.“ (S. 36) Setzt man dagegen mit Georg Lukács das Charakteristikum eines Romans weniger in seine oberflächliche Erscheinungsform, sondern in jenes „paradoxe Verschmelzen heterogener und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik“, so ist Schnack ein starker Roman gelungen.

Das Buch handelt von „einer geschichte von generationen / deren verschweigen der großvater schon / das fünfte jahr / unter die erde / nimmt“ (S. 314). Auch geht es darum, wie das Verschweigen fortwirkt, wie es „unsere luftröhren / verstopft / nicht mit konkreten ängsten / sondern abstrakten gespinsten die / bodenlos lähmen / gegenstandslos stocken“ (S. 226). Orte des Geschehens sind Altaussee, der Ort, an dem einst das Haus der Großeltern stand, und Wien, nahe dem Heldenplatz, wo die 93-jährige Großmutter nun wohnt. Wir begleiten das „du“ auf der Spurensuche nach der verschwiegenen Vergangenheit; einer Spurensuche am Ort der Kindheit, die durch Gerüche (auf der Seewiese), Wege (auf den Loser) und Blicke (auf die Trisselwand) wiederaufersteht; deren Idyll, am See „zwischen Gletscherzunge und Habichtskauz“ (S. 99), durchs Studium der Memoiren des Urgroßvaters jedoch zu bröckeln beginnt. Und das schmerzlich Schöne an dem Buch ist, wie das „du“ um sein Anrecht kämpft, das als schön Erinnerte gelten lassen und ihm weiter die Liebe des Worts schenken zu dürfen – ohne sich der Erkenntnis zu versperren, dass auf der Familie ein Stigma lastet; wie es darum ringt, den Zauber des Ortes zu retten, trotz der „verfehlenden / menschheitsgeschichte“ (S. 275):

unvorstellbar
zwischen blühenden rosen in
weiß
unvorstellbar
zwischen spiegelnden wolken
gipfeln am
wasser dieses
tropfen von rotem
schnee
so abseits
denkst du wieder
erst recht
dass sich hier an wänden des
einzelnen hauses über
dem see
dass sich hier
erst recht
fortlaufend weltgeschichte
v e r s c h r i e b e n
(S. 46)

Die familiären Konstellationen werden im ersten Abschnitt („einlaufen“) benannt und können daher auch hier vorweggenommen werden. Der in Bosnien aufgewachsene Urgroßvater dient im Ersten Weltkrieg dem Kaiser und muss als „Frontschwein“ auf Menschen schießen, mit denen er zuvor zur Schule gegangen war. Nach kurz durchlebtem Idyll am See werden 1944 die beiden Söhne eingezogen, der eine (Großvater) gerät in Kriegsgefangenschaft, der zweite (sein Zwillingsbruder) fällt – „‘in Treue ergeben zu Hitler‘, stand auf dem Brief mit dem Reichsstempel“ (S. 39). Nach dem Krieg der Tod der Schwester der Großmutter – „lange umschrieb die Großmutter. Sie wäre ‚verunglückt‘. Jetzt spricht sie es aus, flüsternd den Kopf zum Teppich. Die Vergewaltigung. Das Veronal, den Selbstmord danach“. (S. 43) Und schließlich, als eine der Hauptfragen: Waren Verdächtigungen, Prozesse, schließlich die Inhaftierung des der NS-Mittäterschaft angeklagten Urgroßvaters gerechtfertigt? „Seitdem das Rasen des Urgroßvaters durch Internierungslager und Gefängnisse. Dieses sein Fragen nach dem Grund […] ist es schein / ist es blindheit / ist es ehrliches fragen“ (S. 116, S. 127)

Was Sophia Lunra Schnack in der Folge entfaltet, ist, auf den Begriff gebracht, eine Art Metaphysik der die Generationen überdauernden, sie geheimnisvoll durchwirkenden Schuldenlast. Das lang Verschwiegene entzurrend und die Linie zu sich selber knüpfend, erkennt sie in ihrem eigenen Schreiben ein Echo der oft verkrampften Verhaltensweisen ihrer Vorfahren. Das rastlose Wandern der Urgroßmutter, das großelterliche Überlachen des Verborgenen geben sich nun zu erkennen als Äquivalentformen des im Schreiben gesuchten Heilsverlangens. Gehend wird sie (wirst „du“) des dem Schreiben eignenden Verblendungszwangs inne, in dem die Gegenwart „sich fortschreibt aus vergangenheit“ (S. 289):

dass es ein akutes kranksein
dieses schreiben
das ein sofortiges behandeln
verlangt […]
dass du es nicht loswirst es dich
zwingt
in jede alltagserscheinung
einen poetischen zweck […]
zu legen
(S. 186)

Der über Generationen hinweg sich wiederholende Wechsel von Krieg und Idylle, von Tod und lachendem Schweigen, das Weiterwirken nicht gesühnter Schuld und verborgener Trauer, wird aber nicht nur als gleichsam privates Familientrauma verhandelt, sondern auch als ein kollektives Versagen kenntlich. Die verlogene Folklore um Dirndl und Narzisse; Verantwortung leugnende Stories von der Rettung nationalsozialistischer Raubkunst; die von health und vitality palavernden Lifestyle-Diskurse der Fremdenverkehrsidylle – überall, wo es (nicht zuletzt sprachlich oder symbolisch) ohne Bedenken so weitergeht, wie es vor den Kriegen war, erkennst „du“ nun Praktiken, „die Normalität von Frieden in Normalität von Krieg wandeln, urplötzlich, / über Nacht […] Methoden, die den gefallenen Bruder weiter fallen lassen, ist schon wieder / gefallen.“ (S. 310)

Der für sich ebenso radikale wie formal stark umgesetzte Gedanke von der Vererbung erlittener Traumata und ungesühnter Schuld bezieht seine Triftigkeit nicht zuletzt aus der Vagheit, die mit ihm einhergeht. Nicht jede:r wird daher den konkretisierenden Schritt gehen wollen und an eine tatsächliche Sühnung der Schuld der Ahnen glauben. Von daher erklärt sich vielleicht der Konjunktiv, wenn es nun weiter heißt: „als würdest du sie einer ganzen epoche / schulden / diese freilaufenden tränen / die man ersticken / dir ersparen / wollte // diese freilaufenden tränen / zu denen die eltern die großeltern / nicht mehr gefunden / nicht mehr finden / spürst wie last abfällt / durch deine tränen / über nie gesehene / gesichter / diese last aus ihrer geschichte / die sie / wie so viele andere / getragen / nicht ertragen“ (S. 246). Das Schreiben als die Sühne durch schmerzhaftes Wiederfinden von Worten, welche die vorangegangenen Generationen verweigert, vergessen, sei’s bewusst, sei’s unbewusst, nicht sich hatten auszusprechen getraut? In jedem Fall ein Schreiben, das Dringlichkeit hat, und die man spürt, in nahezu jeder Zeile.

Das Buch braucht Zeit. Gerade zu Beginn, beim „einlaufen“, bedarf es oft eines dritten, eines vierten, fünften Anlaufs, ehe sich die den Zeilen angemessene Rhythmik erschließt. Ich selbst habe mir („dir“) weite Passagen des Buches vorgelesen, mal lauter, mal leiser. Wer sich die Zeit und Muße nimmt, wird aber reich beschenkt. Von einer Autorin, die (vom Gebrauch des deutschen „laufen“ anstelle von „gehen“ abgesehen) dem Markt keine Konzessionen macht und ein Buch vorlegt, das „deine“ Lesegewohnheiten sprengt durch eine Form, die ein anderes, neues Sehen ermöglicht. Ein gewaltiges Debüt; und ja, auch ein starker Roman.


Franz Schörkhuber
lehrt an den Universitäten Wien (Philosophie) und Bratislava (Germanistik) und befasst sich mit Formen ästhetisch-theoretischen Schreibens in den Grenzräumen von Philosophie und Literatur.

Sophia Lunra Schnack: feuchtes holz.
Roman.
Salzburg: Otto Müller Verlag, 2023.
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN: 978-3-7013-1308-2.

Homepage der Autorin
Leseprobe auf der Verlagsseite

Rezension vom 03.10.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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