Schauplatz ist ein burgendländisches Dorf zwischen Andau und Pamhagen (näher an Wallern oder näher an Tadten?), beinahe meint man, es einzeichnen zu können auf der Landkarte, aber dann entzieht es sich doch wieder – auch seiner literarischen Verortung in der Nachbarschaft von Zick, dem fiktiven Dorf von Klaus Hoffers Bieresch-Romanen.
Nincshof liegt im Dazwischen, zwischen Fiktion und Realität in einer Gegend, wo der eine oder andere Feldweg über eine grüne Grenze führt. Und Nomen est Omen: Das ungarische Wort „nincs“ bedeutet „gibt es nicht, ist nicht vorhanden“. Kein Nincshof also im Seewinkel, an der Grenze zu Ungarn, wohin sich eine Romanfigur auf dem Heimweg einmal verfährt. Hätte sie dort nach dem Weg gefragt, hätte man ihr dann vielleicht gesagt: Olyan falu nincs. So ein Dorf gibt es nicht. Aber gibt es nur das, was wir kennen? Woran wir uns erinnern?
Johanna Sebauer hat in ihrem Roman das Vergessen zum Thema gemacht. Aber nicht jenes strategische, aktive Verdecken und Vergessen von Verbrechen, gegen das in der österreichischen Literatur seit Jahrzehnten angeschrieben wird. Es ist vielmehr das Vergessenwerden (im Passiv!), das von der Gruppe angestrebt wird, die sich die Oblivisten nennt. Und dennoch hat es wohl ein gewisses Naheverhältnis zu dem von Arik Brauer besungenen „Köpferl im Sand“.
In Nincshof herrscht eine mythische Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit, wenn auch nicht nach einer ruhmvollen, wie so manche Revisionist:innen sie pflegen. Es wird vielmehr der nostalgische Wunsch verfolgt, eine Freiheit wiederherzustellen, die es schon einmal gegeben haben soll. Denn einst, so will es die Legende, war das Dorf versteckt im Schilf der Hánságsümpfe, und die Nincshofer lebten glücklich, friedlich und auf sich selbst gestellt und taten, was sie wollten. Bis man dann den Einserkanal baute und diese Sümpfe trockenlegte. Und dabei Nincshof entdeckte. Womit das Dorf fortan dem Lauf der Geschichte preisgegeben war. Einer Art österreich-ungarischen Kolonialgeschichte im eigenen Vorgarten. Oder vielmehr erst der ungarischen, dann der österreichischen.
Die Oblivisten, das sind nun, mehr als 100 Jahre später, der Bürgermeister, der uralte Sipp Sepp und der junge Valentin Salmerak, der dem Unternehmen eine intellektuelle Note zu verleihen sucht und sich bemüht, das Anliegen zur Philosophie zu erheben. Im Vergessenwerden liegt die Freiheit, ist man überzeugt, und so will man den Nincshofer Urzustand des Vor-der-Welt-Verborgenseins wiederherstellen. Dafür holen sich die drei zur Unterstützung eine, die, wie sie meinen, was von Freiheit versteht: Die beinahe 80-jährige Erna Rohdiebl hat sich die Freiheit genommen, nächtens in der Nachbarin Garten einzusteigen, um in deren Pool zu schwimmen.
So weit, so gut, man trifft sich, schmiedet Pläne, und wie das Leben so spielt: Es kommt nicht immer wie geplant, und zuweilen kann eine kleine Widrigkeit eine größere nach sich ziehen. Außerdem wollen verschiedene Leute bekanntlich Verschiedenes. Da ist etwa der Weinbauer mit seinen Ideen, den Tourismus anzukurbeln, und da sind „die Neuen“, die Zugereisten aus der Stadt: der Architekt und seine Frau, die Dokumentarfilmerin: er züchtet eine (fiktive) exotische Ziegenrasse und sie sucht ihren ganz persönlichen Rückzug (auch eine Form des Von-der-Welt-Vergessenwerdens). Dabei interessiert sie sich aber mehr und mehr für das Dorf und seine Legenden und begibt sich auf die Suche nach Spuren. Diese Spuren werden wiederum von anderen Einwohner:innen nach und nach verwischt, nicht aufgrund der Nachforschungen der Dokumentarfilmerin, sondern weil nach Überzeugung der Oblivisten Freiheit am besten im Verborgenen gedeiht. Genau deshalb soll das Dorf dem „Zugriff der Geschichte“ wieder entzogen werden und zurück ins Versteck, das Schilf, die Vergessenheit. Das Schöne dabei ist: Schuld sind die, die vergessen, nicht die, die vergessen werden. Da ist sie wieder, die Frage von aktiv und passiv. Ja, und da war noch eine Besonderheit in Nincshof: die Namen werden matrilinear weitergegeben. Aber auch das hat man wohl wieder vergessen.
Johanna Sebauer inszeniert vor der Kulisse eines idyllisch-verschlafenen Seewinkels genuss- und liebevoll die Schrulligkeiten und Seltsamkeiten einer Schildbürger-haften Staatsverweigerer-Szene, die auf den ersten Blick harmlos wirkt es aber doch nicht ganz ist. So wirklich bösartig ist hier niemand, aber die Ideen, an die die Leute glauben, sind auch nicht durchwegs gut. So manches schillert und flimmert in der staubigen Hitze des heißen Steppensommers (die Sümpfe sind ja trockengelegt). Durchsetzt mit hintergründigen Gedankenspielen liest sich der Roman ironisch-unterhaltsam, und in der Fiktion hat Nincshof ein neues Versteck gefunden. Und wartet nun darauf, entdeckt zu werden. An einem Spätsommernachmittag im Liegestuhl oder einem Regentag im Herbst, wenn das Schilf geschnitten wird und der Wasserspiegel im See wieder steigt. Für ein paar vergnügliche Stunden.