„48 Stunden später blickten wir aus dem Flugzeug auf den Hochhausturm, sahen zu, wie er mit der restlichen Stadt unter uns verschmolz. Den Subkontinent liebtest du, ungeachtet des Dengue-Fiebers, das dich statistisch unwahrscheinlich dennoch befiel, auch das eine Erfahrung, die man so schnell nicht machte.“ (153) Um Erfahrungen – sei es in der Ferne oder im Zwischenmenschlichen – darum kreist Theresia Töglhofers Beitrag. Das pure Leben erzählt die Geschichte eines rastlosen Paares – verbunden durch Alkohol, Zigaretten und Reisen: „Insgesamt 72 Reisen haben wir innerhalb der letzten drei Jahre unternommen, Eltern- und Verwandtenbesuche nicht mitgezählt, 18 Fernreisen, 35 Mittelstreckendestinationen, ansonsten Europa, aber niemals derselbe Ort, nicht einmal dasselbe Land.“ (154) Bloß keine Wiederholung. Immer wieder aufs Neue raus in die Welt. Bewegen, leben und vor allem erleben. Es ist die Angst vor einer Existenz im Konjunktiv, die die beiden antreibt. Dabei zeichnet die gebürtige Grazerin Töglhofer ein paradoxes Bild: Ihr unstillbarer Durst nach Neuem macht die Liebenden zu Gefangenen ihrer Erlebnislust. Das Auskosten der Gegenwart wandelt sich zum Diktat des Augenblicks. Vergangenes? Nur bedingt interessant: „Die Vergangenheit war nie unsere Form, war höchstens auf Facebook, sonnengebräunt, für unsere guten Freunde einsehbar.“ (135)
Die indirekte Rede bremst auf formaler Ebene das rasante Tempo der Erzählung. Die Gedanken der Ich-Erzählerin scheinen dem Text geradezu davonlaufen zu wollen. Aber langsamer werden ist keine Option: „Wir fragten uns nicht, ob du mich, ob ich dich, wir lebten den Moment, wir hassten Phrasen, es war die einzige, die zutraf, aber wir hatten keine Geschichte, auch keine Versäumnisse, die uns aneinanderbanden, kein hätten sollen, können, müssen, mehr als ein Leben im Konjunktiv fürchteten wir nur ein Leben im Konjunktiv Imperfekt.“ (157) Obwohl sie dem Augenblick das Wort redet, kommt zum Schluss dann doch die Einsicht: Irgendwann ist man selbst nicht mehr als eine Erinnerung. Denn jetzt ist irgendwann auch vorbei: „Bald werde ich eine wichtige Erfahrung sein, wie andere Exfreundinnen, Dengue-Fieber und Fischvergiftung.“ (159)
Und wenn man auf die Vergangenheit des open mike blickt, wird auch Töglhofer der Literaturwelt noch länger in Erinnerung bleiben. Denn der open mike ist der wichtigste deutschsprachige Nachwuchswettbewerb für Prosa und Lyrik. Seit 1993 bietet er Autorinnen und Autoren neben der öffentlichen Bühne auch unmittelbares Feedback durch eine Fachjury von sechs Verlagslektorinnen und -lektoren. Viele namhafte Autorinnen und Autoren wie Kathrin Röggla, Jochen Schmidt, Terézia Mora oder Ulf Stolterfoht unternahmen hier ihre ersten Gehversuche in der Öffentlichkeit. 2015 fand der Literaturwettbewerb nun zum 23. Mal statt.
Die Regeln sind schnell erklärt: Jeder bzw. jede Teilnehmende sendet einen Text ein – allein dieses Jahr waren es 600 Einsendungen. Jeder Beitrag wird der Jury anonymisiert vorgelegt. Anschließend wählt die Jury 20 Finalistinnen bzw. Finalisten aus. Die Ausgewählten präsentierten ihre Texte schließlich vom 6. bis 8. November 2015 in Berlin. Dabei müssen sie nicht nur furchtlos vor dem Urteil der Jury, sondern auch vor jenem des Publikums sein.
Um Furcht geht es auch in Jessica Linds Beitrag Mama. Die schwangere Ada hat sich mit ihrem Mann Theo für einen Wochenendausflug in die Waldhütte ihrer Schwiegereltern einquartiert. Der schwülen Luft zum Trotz begibt sich Ada in den Wald. Durch einen „breiten Geräuschteppich“ (92) hindurch findet sie sich bei einer Waldlichtung wieder. Ein Strahl blendet sie für einen Augenblick – und dann ist da auf einmal ein Mädchen: „Und so legt sie ihre Hand über ihre Augen und lässt den Blick über die Lichtung schweifen und sieht etwas, ein Kind. Ada blinzelt.“ (92)
Ist das ein Traum? Ist es die Realität? Oder war das gar ein Zeitsprung? Man bleibt ratlos zurück. Ebenso Ada, die das Kind zurück zur Hütte bringt. Theo dagegen behandelt Luise – so heißt das Mädchen – wie sein eigenes Fleisch und Blut. Und plötzlich ist aus dem Paar eine Kleinfamilie geworden.
Der Zweifel wird zum Leitmotiv: Zweifeln an der Realität, aber auch an sich selbst. Kann Ada ihre Rolle als Mutter erfüllen? Sie scheint versteinert, gibt sich der neuen Situation wehrlos hin: „Luise setzt sich mit ihrem schönen Kleid in den Schmutz. Ada bleibt stehen. Luise schaut sie an, »Mama auch spielen!« Doch Ada bewegt sich nicht. Luise seufzt, steht auf, kommt zurück, packt Ada am Rockzipfel und zieht sie mit sich. Das wird einen Fleck machen, denkt Ada mit Schrecken und traut sich gar nicht hinsehen, aber sieht vor ihrem inneren Auge die kleinen, schmutzigen Finger, die ihren Saum umgreifen.“ (95) Wegrennen erscheint aussichtslos. Die Hütte, mitten im Wald gelegen, wird zum Gefängnis: „Da sind Geräusche. Ein Wald in der Nacht ist so laut und so fremd. Und Ada geht lieber zurück in die Hütte als in die unbekannte, tiefe Dunkelheit.“ (93)
Die Erzählung beeindruckt durch enorme Spannung, trotz oder gerade wegen der lakonischen Sprache . Das Unheimliche – in Form des Waldes und des Mädchens – bricht sich seinen Weg in Adas Leben. Doch auch ihre Selbstzweifel werden größer und größer. Schließlich sind Ada und Luise erneut bei der Waldlichtung. Die Bedenken, die Zweifel, ja, die Furcht gewinnt die Oberhand. Ada verweigert sich den Gegebenheiten: „Immer wieder schaut sie in das Gesicht ihres Kindes. Furchtlos. Ada seufzt, sie steht auf. Blickt hinunter auf das Mädchen, das nicht aufschaut. Dann setzt sie sich in Bewegung.“ (96) Sie bricht auf und lässt alles hinter sich: „Ein Schritt. Es ist gar nicht mehr unheimlich. Noch einer. Sie dreht sich nicht mehr um, sie verschwindet in der Dunkelheit des Waldes.“ (96)
Der Wald spielt auch in Hilde Drexler Zinnentanz eine Rolle. Na gut – eher eine Nebenrolle. Dafür allerdings hat er mehrere Auftritte: „»Der Herbst hatte den Wald angesteckt, dass dessen Bäume nun in rot-gelben Flammen standen. Der Herbst hatte den Wald ange… zündet … Der Herbst hatte den Wald angezündet, dass die Bäume, dessen Bäume, seine Bäume«, so ein Blödsinn […].“ (33) Kein Blödsinn, sondern leider Tatsache: Schreiben ist schwer. Da wollen Formulierungen einfach nicht sitzen: „okay, was haben wir jetzt schon: die Finstere Feste auf den Klippen, weiß! weiße Klippen, weißer Fels und die Feste auch weiß, finster nur wegen der Stimmung, bedrohlich und düster und so unten die weiße See, weiß, weil das Wasser so schäumt […].“ (34) Und Synonyme nicht einfallen: „»Babbabab hatte den Wald angesteckt, dass dessen Bäume nun in rot-gelben Flammen loderten. Wild wühlte der Wind in den Wipfeln, dass die Funken stoben. Wild wühlte der Wind in den Wipfeln und ließ die Funken stieben, Unter der Wipfeln«, nein, scheiße, Wortwiederholung, »unter den …«, warum nicht Wipfeln, ist ja kein Schulaufsatz […].“ (35) Der Text zeigt den ganz normalen Wahnsinn des Schreibens.
Drexler thematisiert hier mehr als die bloße Selbstbeobachtung einer Autorin. Denn während des Schreibens ist schon nach dem Schreiben: Wird der Text ankommen? Wird man ihn ernst nehmen? Die Ich-Erzählerin schielt auf mögliche Fettnäpfchen: „Wortbombast, so wird man nicht Literatur, so wird man bestimmt nicht Literatur, viel zu pathetisch, das ist nicht in, Kitsch, wird es heißen und: Stabreimobsession, hmm, besser wäre so vergeistigtes Gefasel: in ihrem Kopf mäanderten die Gedanken oder so was […].“ (37) Was, wie und wofür man Literatur schreiben soll – das ist hier die Frage. Oder eher das Problem: „hmm … wenn aber Fantasy, dann richtig, mit Drachen und Trollen und drei Teile und dann Bestseller und Hollywoodverfilmung und auf dem roten Teppich und Douglas Booth in der Hauptrolle, voll!“ (37)
Der Gedankenstrom strotzt nur so vor Auslassungspunkten, Wortwiederholungen und vermeintlich genialen Innovationen. Doch leider kommt recht bald die Ernüchterung. Das literarische Rad neu erfinden, scheint doch schwerer als erwartet: „hmm …, vielleicht so ganz viele Bücher zitieren, Zitate, aber auch so Namen von Charakteren oder Szenen ähnlich, hmm … über den Stil müsste man es machen, irgendwie anders, innovativ … vielleicht mehr salopp … hmm, nein das ist durch, danke, Wolf Haas! Penner!“ (37) Doch wie zur eigenen Stimme finden? Darauf gibt der Text keine Antwort. Und das will er auch gar nicht. Vielmehr will er unterhalten und das gelingt ihm auch. Und eine Erkenntnis bringt er dann doch zum Vorschein – irgendwann ist es auch mal genug mit dem Nachdenken: „Hmm, das ist vermutlich zu viel. das ist aber so was von zu viel! »Der Herbst hatte den Wald angesteckt, dass …«, ach Scheiß drauf!“ (40)
Der Ich-Erzähler in Many fine Writers have not been sent to Prison ist sich sicher: Er hat Talent – Talent zum Schreiben. Was ihm noch fehlt? Eine gute Idee. Oder doch nur Motivation: „Ich spürte all die aufwallenden Ideen, sie waren da, irgendwo, aber mir fehlte die Kraft, sie aufs Papier zu bringen, vielleicht fehlte mir auch die Lust, denn die Literatur ist eine sehr anstrengende Sache, besonders wenn man nichts zu sagen hat. Es gab schlichtweg keine Themen für mich. Das war das Schrecklichste an allem. Ich hatte keinen einzigen Krieg erlebt. Und noch nicht mal Jude war ich.“ (24) Ein Geistesblitz muss her. Und dann ist er da. Die Erleuchtung kommt in Form eines Filmzitats: „Many fine books have been written in prison“ (26), erklärt Johnny Depp im Film Fear and Loathing in Las Vegas. Dem Ich-Erzähler fällt es wie Schuppen von den Augen: Er muss ins Gefängnis und das so schnell wie möglich.
Der Erzähler versucht wirklich alles: Raub, Diebstahl, Körperverletzung. Nichts klappt. Auf Umwegen kommt er dann doch noch in Gewahrsam. Nach einer Unterhaltung beim Polizeipsychiater weist ihn dieser ein: „Ich hatte – wenn auch anders als geplant – mein Ziel erreicht. Ein Einzelzimmer war mir versprochen worden.“ (31) Nun ist die Umgebung da, doch das Werkzeug fehlt – Papier und Stift sind verboten: „Zu hoch sei das Risiko, dass ich den Kugelschreiber dazu missbrauchen könnte, jemanden das Auge auszustechen. Auch Papier war verboten. Man könne damit seinen Sitznachbarn schneiden.“ (31) Statt zu verzweifeln fasst der Erzähler bereits einen neuen Plan: Rauchen. Rauchen für die Kunst. Denn jeder weiß: „Die Kunst ist eine Art Märtyrertum des Intellektuellen […].“ (31) Das neue Ziel: Lungenheilanstalt. Die Idee kommt nicht von ungefähr: „Wo, meine Damen und Herren, könnte man eher ein großer Schrifsteller werden als in einer Lungenheilanstalt?“ (32) Dass Toby Dax hier an Thomas Bernhard denkt, ist offensichtlich. Ob dem Ich-Erzähler der Durchbruch gelingen wird, ist nicht sicher. Was aber sicher ist, ist dass Dax eine unterhaltsame Satire gelungen ist, die sich dazu noch in einer lebendigen Sprache präsentiert. Nebenbei wirft der Text berechtigte Fragen auf: Darf man nur über Geschehnisse schreiben, die einem selbst widerfahren sind? Können nur so gute Geschichten entstehen? Wer entscheidet überhaupt, ob eine Textidee gut ist oder nicht? Oder hat der Ich-Erzähler doch recht, wenn er erklärt, „es gibt nämlich keine richtigen und falschen Wörter in der Literatur, es gibt auch keine guten und schlechten Geschichten. Es gibt nur willige und unwillige Leser, nur engstirnige und unvoreingenommene Leser.“ (24)