#Roman

2001

Angela Lehner

// Rezension von Johanna Lenhart

Handys haben Tasten und Guthaben, bis Jahresende wird noch mit Schilling bezahlt, die erste ÖVP/FPÖ-Regierung wird angelobt und der Höhepunkt des jugendlichen Lebens ist ein Konzert der Linzer Hip Hopper Texta: Wir sind in Österreich im Jahr 2001. Um genauer zu sein, in der Kleinstadt Tal, am österreichischen Land. Aber was auch immer der Tourismusprospekt behauptet: Nichts ist hier pittoresk. In der Tradition schönster Anti-Heimatliteratur wird hinter die Fassade von „riesigen Mehrfamilienhäusern“ geschaut, die „in Wirklichkeit mit Kacke ausgestopft sind.“ (S. 7): „Im echten Leben gibt es keine Edelweiße und Enziane. Im echten Leben gibt es auch die Romy nicht mehr. Und die Sissi schon gar nicht.“ (S. 157)

Dementsprechend sind die Perspektiven für die Einwohnerinnen und Einwohner von Tal mager, besonders für die Jugendlichen, um die es sich im zweiten Roman von Angela Lehner dreht. Das Buch begleitet fast ein ganzes Jahr – 2001 – im Leben der „Crew“ (S. 8): Julia, Michael, Melli, Hannes, Tarek und Bene sind eine eingeschweißte Truppe, die bisher gemeinsam durchs Leben gegangen ist. Mitten in der Pubertät tun sie, was man in der Pubertät so tut – man trinkt und hört obsessiv Musik, man verliebt sich und man hat Probleme in der Schule. Auffällig abwesend dagegen sind die meisten Erziehungsberechtigten, die undeutlich am Rand der Wahrnehmung der Jugendlichen herumgeistern. Besonders Julia und ihr Bruder Michael, deren Mutter nur als Tassen voller Rührkaffee in Erscheinung tritt, sind auf sich allein gestellt.

Aus der Perspektive von Julia wird die Geschichte auch erzählt. Julia gehört zum sogenannten „Restmüll“ (S. 10), wie Schülerinnen und Schüler der örtlichen Hauptschule, die keine besondere Begabung vorweisen können, genannt werden. Julia ist ein großer Hip Hop-Fan, wie sich das für Teenager 2001 gehörte, und Julia ist das, was man eine ‚renitente Schülerin‘ nannte – ihre Noten sind schlecht, sie sitzt nicht still, widerspricht. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer haben sie aufgegeben, zu Hause kann sie von ihren abwesenden Eltern in finanziell prekärer Lage keine Unterstützung erwarten. Sie ist keine von jenen, denen die Sonne ins Gesicht scheint. Julia ist aber – und nicht nur deshalb erinnert sie stark an Eva Gruber, die Protagonistin von Angela Lehners erstem Roman – nicht deprimiert, wartet auf Rettung oder schaut melancholisch auf die Welt, sondern sie ist widerständig, resilient: Sie schaukelt das Ding schon, auf ihre eigene Weise. Julia ist es auch, der die Crew den meisten Halt gibt. Für Julia, die, so fürchtet man, wenig Aussicht darauf hat, der Trostlosigkeit ihres Lebens zu entkommen, ist die Clique eine Art Wahlfamilie. In der Crew schaut man aufeinander – so zumindest sieht es Julia. Gleichzeitig ist Julia eine Meisterin der Verdrängung, die nicht wahrhaben will, dass ihre Zukunft ungewiss und die Tage der Crew gezählt sind. Denn im Laufe dieses Jahres ändert sich für Julia und die anderen einiges: die Schule wird abgeschlossen (oder eben nicht), die Gruppe bricht auseinander, setzt sich neu zusammen. Es geht ums Erwachsenwerden, ums Hintersichlassen, darum, sich neu zu orientieren, darum, sich selbst aus der Misere zu ziehen: „Einen Ort zum Existieren zu finden, ist als Jugendlicher nicht einfach.“ (S. 127)

Das zweite große Thema dieses Romans ist allerdings Österreich: „Österreich ist ein Würstel, weil es nicht zu seinen eigenen Sünden steht. Österreich ist ein Würstel, weil es nicht einmal hundert Jahre später die Faschos wieder in die Regierung lässt“ (S. 101), wie Bene anlässlich seines Geschichtsreferats zum Unmut des Lehrers verkündet. Und wenn Angela Lehner von Österreich 2001 spricht, spricht sie natürlich auch über Österreich heute: „Und ich frage euch: Wenn wir uns heute schon freiwillig so dumm verhalten, wer sind wir dann in zwanzig Jahren? Wenn die Causa Omofuma heute schon vergessen ist, was werden wir dann in zwanzig Jahren vergessen haben? Marschieren wir dann wieder mit Reichsflaggen und stecken die Menschen in Lager? Werfen wir Kinder mit dem falschen Stammbaum wie Wölfe aus unserem Land?“ (S. 292, 293)

Unterhaltsames Vehikel für die politischen Kommentare ist ein Experiment im Geschichtsunterricht, das dem Lehrer zusehends entgleitet. Jede Schülerin und jeder Schüler bekommt die Rolle eines politischen Akteurs (alles Männer, wie an einer Stelle von einem der Schüler bemängelt wird) oder einer Institution zugeteilt, die sie anschließend im Unterricht verkörpern sollen: Von Jassir Arafat und Gerhard Schröder über Thomas Klestil und Boris Becker bis hin zu ‚die Presse‘ und einem ‚Augenzeugen‘. Und der von dieser Idee überforderten Julia wird bezeichnenderweise die UNO zugeteilt. Diese Idee birgt eine Steilvorlage für witzige Vereinfachungen und Verbindungen (und nur in einzelnen Passagen kommt der Zeigefinger etwas zum Vorschein). Die Schülerinnen und Schüler verwandeln das politische Parkett im Klassenzimmer in ein Kasperltheater – das es, so würden vielleicht manche den Schluss ziehen, ja ohnehin ist. Der Unterhaltungswert dieses Kasperltheaters nimmt allerdings ein jähes Ende, als die Realität in das Spiel einbricht: Ein Schüler, der „eigentlich aus Jugoslawien […] aber jetzt gerade aus Tirol“ (S. 119) kommt, wird mit einem gespielten Slobodan Miloševic konfrontiert. Der Akteur Jörg Haider taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf und macht sich durch leere Versprechungen und Geschenke am Schulhof beliebt, während es in der Stadt zu rechtsextremen Übergriffen kommt.

In der Beschreibung des Experiments zeigt sich auch, was für den ganzen Roman zutrifft: die smarte Konstruktion des Textes. Wenn zunächst viele einzelne Handlungsfäden aufgenommen, Nebenschauplätze aufgemacht oder Details scheinbar zusammenhangslos erwähnt werden, fügt sich das, was zunächst wie Staffage aussieht, am Ende zu einem Bild zusammen. Gleichzeitig entwickelt der im Präsens erzählte Roman ein Tempo, das sich in einem fast klassisch konstruierten Spannungsbogen steigert, bis sich die Ereignisse überschlagen und es zu einer Art Neuanfang kommt.

Wie schon in ihrem Debutroman Vater unser (2019) präsentiert Angela Lehner hier einen ausgezeichnet gebauten Text, der sich höchst unterhaltsam und dennoch keineswegs platt liest. Dabei bedient sie sich erneut eines einprägsamen Erzählduktus mit großem Wiedererkennungswert. 2001 versetzt sich zum einen in die politische Lage Österreichs Anfang des Jahrtausends und zum anderen in das prekäre Leben seiner Protagonistin hinein. Beide aber – Österreich und Julia – sind keine Opfer. Im Gegenteil: Sich den herrschenden Umständen zu widersetzen, sowohl persönlich als auch politisch, scheint der Auftrag dieses rasanten Romans an seine Leserinnen und Leser zu sein.

Angela Lehner 2001
Roman.
Berlin: Hanser, 2021.
384 S.; geb.
ISBN 978-3-446-27106-7.

Rezension vom 09.09.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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