#Prosa

HERZ

Alfred Goubran

// Rezension von Sabine Schuster

Eine Verfassung.

In seinem neuestem Prosaband HERZ. Eine Verfassung nimmt der österreichische Autor Alfred Goubran seine Leser mit in die Psychiatrie. Ein Mann namens Muschg sitzt in einer Anstalt ein, ohne sich zu erinnern, warum. In einem inneren Monolog reflektiert er über die Welt, in der wir heute leben, und über die Anstalt, die ihm erscheint, als wäre er immer schon dort gewesen. Niemand kann ihm Auskunft geben, was ihn in den sogenannten Irrsinn getrieben hat, eine Verschwörung ist nicht auszuschließen, es gibt jedoch keinerlei Anhaltspunkte oder Erinnerungen. Nur ein immergleiches Ritual: Jeden Morgen wird Muschg von der Krankenschwester Anke mit ihrem bestialischem Mundgeruch und einem Becher voller Tabletten geweckt, wie in einer Zeitschleife.

Muschg behauptet, Theaterdisponent zu sein, und sein Monolog ist nicht nur eine Abrechnung mit dieser Tätigkeit, mit der sich der erklärte Theaternarr angeblich eine berufliche Existenz geschaffen hatte, sondern mit der ganzen Kultur, nein, der ganzen auf das bloße Funktionieren ausgerichteten, leblosen Welt. Dabei zitiert Muschg laufend den Dichter Aumeier, der bereits in Goubrans Romanen „Aus“ und „Durch die Zeit in meinem Zimmer“ eine Nebenrolle hat und dessen Aufzeichnungen schließlich im Zentrum des Romans „Das letzte Journal“ aus dem Jahr 2016 stehen.
Der Literaturjournalist Stefan Gmünder verbindet in seiner Rezension des „Letzten Journals“ das Werk Alfred Goubrans mit Kafkas Prosatext „Der Aufbruch“. „Nur weg von hier, immerfort weg von hier“, will Kafkas Held bei seinem Aufbruch zu einer riskanten Reise, die vielleicht den letzten Einsatz erfordert. Um diesen letzten Einsatz und um die Utopie von einem anderen Leben gehe es auch im Werk des Schriftstellers Alfred Goubran (Der Standard, 12. Ok. 2016).
Auch beim Lesen von „HERZ. Eine Verfassung“ ist Kafka stets gegenwärtig. Muschgs Ausgeliefertsein an die Anstalt, an anonyme und bürokratische Mächte, seine Handlungsunfähigkeit, sein Rückzug in eine innere Kammer, die unabänderliche Routine – alles erscheint kafkaesk in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes:

„(…) warum man uns überhaupt Kleidung geben muß, ist mir ein Rätsel, ich habe Anzüge & Hemden & Hosen & Schuhe zuhauf, ich bin der Anstaltsalmosen nicht bedürftig & mir im übrigen keiner Krankheit bewußt – meine Theaterkrankheit ausgenommen –, die meine Verbringung an diesen Ort rechtfertigen könnte, vielleicht habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen, vielleicht bin ich entführt oder verwechselt worden – ja, das würde dem großen Blabla in seiner feinen Strickweste & den moosgründen Socken gefallen, wenn ich ihm solche Fragen stellte, dann wäre meine Verbringung mit einem Schlag gerechtfertigt, dann müßte ich ihm sein Gefasel glauben, wenn er von Heilung und Wiederherstellung spricht, von Genesung & Gesundheit – und dann auch noch im Geistigen,
nein, abgesehen davon, dass ich überzeugt bin, das der große Blabla nur meine Unterwerfung & nichts anderes im Sinn hat, glaube ich nicht, daß so etwas wie ein geistig gesunder Mensch in unseren Breitengraden und Zeitzonen existiert, das ist nur ein weiterer Köder, denke ich mir, ein weiterer Stachel, den der große Blabla in mich hineintreibt, das ist gelernt & Teil des Abcdariums der Schwarzkunst, die er an mir erprobt, denn – und das muss er wissen –, auch wenn heute die Existenz eines ‚geistig gesunden‘ Menschen in unserer Gesellschaft unmöglich geworden ist, so will man den Glauben & die Hoffnung nicht aufgeben, daß man vielleicht selbst einmal so ein geistig gesunder Mensch geweisen ist & seelisch ‚heil‘, obwohl – oder gerade weil – die geistige Zerrüttung & das Gebrochensein im Innersten unser tägliches Brot sind,
wir sind doch immer nur im Widerstand & im Dialog mit diesem Gebrochensein geworden, was & wer wir sind, diesem Gebrochensein, an dem wir verzweifeln oder vor dem wir kapitulieren oder das wir annehmen, als eine Gegebenheit in uns, auch als eine Grenze und ein Begrenztsein, das von allem Anfang gegen die Anmaßung gesetzt ist & das wir nicht loswerden /: heute am 17. März wie an jedem Tag :/, ich denke, das war nie anders, nur daß wir heute dieses Gebrochensein schwerer ertragen, die Unvollkommenheit, wenn man so will, die Begrenztheit sowieso, denn wer will schon endlich sein, die Anmaßung ist heute verordnet, sie wird gelernt & eingeübt & ist uns zur Norm geworden, das ist auch ein Fortschritt, sage ich mir, wenngleich nicht der, den man uns versprochen hat, (…)
(S. 29ff)

Am Ende eines atemlosen Gedankenstroms, der auf 190 Seiten ohne Punkt auskommt und mit durchaus ansteckender Leidenschaftlichkeit die Suche nach dem „anarchischen Grundwasser“ (S. 41) unserer Existenz abhandelt, wobei die äußere Realität zunehmend fragwürdig erscheint, steht wieder einmal ein Aufbruch ins Ungewisse. Muschg, der vielleicht identisch mit dem Schriftsteller Aumeier ist, durchbricht die Bewußtseinslosigkeit seiner Anstalts-Routine und besinnt sich – beim Schreiben – auf sein Innerstes, sein Herz. Solange dieses Herz schlägt, ist auch die Erinnerung lebendig, selbst wenn sie verschüttet sein sollte oder hinter einem Trauma verborgen: „das Herz ist warm, / jeder Herzschlag ist unumkehrbar, // das Herz sagt jetzt, / und dieses jetzt / kennt auch ein gestern // und ein morgen…“ (S. 191)
Ein großes Plädoyer für das Empfinden und für die Literatur, für die Sehnsucht nach dem bedingungslosen Leben, für ein heißes Herz und gegen die „Kopffüßler“, die Routine & den Wahn (S. 190), das zusätzlich noch grafisch auf berückende Weise umgesetzt wurde. Der Zeichner Nicolas Mahler ist für die Covergestaltung des Bandes verantwortlich und hat die Innenseite der Buchdeckel mit einem Schwarm kleiner fliegender Herzmuskel geschmückt!

Das  Lesen von HERZ weckt zwangsläufig die Neugierde auf das Manuskript Aumeiers, das wiederum für Muschgs ‚Verfassung‘ eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Man könnte also den Roman „Das letzte Journal“, der 2016 ebenfalls im Braumüller Verlag erschienen ist, als eine Art Vorgeschichte und weitere Spurensuche zu HERZ gleich mitlesen.

Alfred Goubran HERZ
Prosaband.
Wien: Braumüller, 2017.
192 S.; geb.
ISBN 978-3992001835.

Rezension vom 13.12.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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