Wird von Archiven gesprochen, denken viele zunächst an die Staats- und Verwaltungsarchive, deren wichtige Aufgabe in der Archivierung von Rechtsakten und administrativen Unterlagen liegt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Ruf nach Archiven für Literatur laut, allen voran der Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911), der mit der Gründung eines deutschen Literaturarchivs auch die Bildung einer deutschen Kulturnation und die Einigung Deutschlands anstrebte.1 Die Umsetzung dieser Forderung nahm einige Zeit in Anspruch (das Deutsche Literaturarchiv/DLA in Friedrich Schillers Geburtsort Marbach am Neckar wurde 1955 gegründet), heute blickt man jedoch auf eine Vielzahl an Institutionen, die sich der Sammlung und Bewahrung literarischer und künstlerischer Produktion, in Form von Vor- und Nachlässen von Autor:innen und Künstler:innen, Verlagsarchiven sowie der Erfassung von Rezeptionsdokumenten verschrieben haben.

Aber was hat es nun mit den Gefühlen in den Archiven auf sich?
Das Archiv als Ort der Bewahrung des kulturellen Erbes ist mit zahlreichen, auch klischeehaften Vorstellungen und Bildern behaftet, diese reichen einerseits von staubbedeckten, meterhoch gestapelten Kisten in dunklen Kellergewölben, bis hin zu sterilen, neonbeleuchteten Rollregallandschaften. Für die Verbreitung dieser Klischees spielt nicht zuletzt auch die mediale Darstellung von Archiven in der Populärkultur, wie Belletristik, Film, Computerspiel oder Memes, eine tragende Rolle. Mit Lebendigkeit und menschlichen Gefühlen haben diese Bilder jedoch eher wenig gemein. Zu verschachtelt und verschlossen sind die Materialien in den sie schützenden Archivboxen, im besten Falle ist der Inhalt der säurefreien Schachteln aber nach allen Künsten der archivarischen Praxis geordnet und durch ein Bestandsverzeichnis für die Benutzung erschlossen.

Während in Verwaltungsarchiven Akten nach dem Provenienzprinzip abgelegt werden, welches eine Ordnung nach historischen Entstehungs- und/oder Überlieferungszusammenhängen vorschreibt, arbeiten die meisten deutschsprachigen Kulturarchive nach einem eigens erarbeiteten Regelwerk, der Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken für Personen-, Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen, kurz: RNAB. Diese sieht eine Zuordnung der Materialien nach den Kategorien Werke, Korrespondenzen, Lebensdokumente und Sammelstücke vor.

Die größte Besonderheit von Vor- und Nachlässen,
im Vergleich zu Verwaltungsakten, liegt jedoch in der individuellen Beschaffenheit und der daraus resultierenden Heterogenität der Bestände. Jeder Vor- und Nachlass ist geprägt von äußeren, strukturellen Faktoren, ebenso wie von der Persönlichkeit und Arbeitsweise der Bestandsbildner:innen.2 Das individuelle Moment der Bestände bestimmt in weiterer Folge bis zu einem gewissen Grad auch die Praxis ihrer weiteren Bearbeitung und Handhabung. Wenn die französische Historikerin und Forschungsdirektorin an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris Arlette Farge in Bezug auf das Staatsarchiv eine emotionale Hinwendung zum Archiv und seinen Inhalten konstatiert3, so trifft dies auf Vor- und Nachlässe mindestens genauso zu. Wenngleich vor vorschnellen Idealisierungen der Archivalien als intimes, authentisches und auratisches Material gewarnt sei. Gerade im Hinblick auf Künstler:innenbestände lassen sich immer wieder Formen von Inszenierung und bewusster Kuratierung der übergebenen Materialien beobachten.

Affekte und Gefühle
spielen in vielen Stadien und Abläufen der Archivarbeit und unterschiedlichen Konstellationen eine nicht unbedeutende, aber bislang wenig beachtete Rolle. Bereits vor der Übernahme eines Bestandes werden meist in persönlichen Gesprächen zwischen Vorlasser:in und in Frage kommender Institution rechtliche, finanzielle und persönliche Agenden abgesteckt, vor allem aber wird eine Beziehung aufgebaut. Wie intensiv diese Beziehung ausfällt, ist ebenso unterschiedlich, wie es die Bestände selbst sind. Das Vertrauen der Bestandsbildner:innen in die Institution und ihre Mitarbeitenden ist jedoch von zentraler Bedeutung. Die Reflexion dieser archivarischen „Beziehungsarbeit“ und des „objektiven“ wissenschaftlichen Anspruchs, dem sich die Institutionen verpflichtet sehen, kommt im Arbeitsalltag oftmals zu kurz und wird in einigen Beiträgen dieses Bandes erstmals deutlich formuliert. Auch die Beschaffenheit eines Bestandes, seine Lückenhaftigkeit oder prekären Überlieferungsbedingungen können Empfindungen in den Archivar:innen auslösen und zugleich ein Nachdenken bedingen, wie mit diesen Lücken und Leerstellen umzugehen ist.

Die Archivalien selbst sind stets auch eminente Zeugnisse bestimmter Gefühls- und Affektzustände, die sich sowohl im Werk der Künstler:innen, wie in Notizen, Korrespondenzen, Objekten und Lebensdokumenten finden lassen. Die Sichtung und Bearbeitung der Materialien kann dabei für Archivar:innen und Forscher:innen zu weiteren Gefühlsregungen führen – etwa anhand von Krankenakten, Wutbriefen, oder Familienfotografien – wie im Band beispielhaft dargestellt wird. Im Kontext der Arbeit im bzw. am Archiv stehen damit heterogene Materialien im Zentrum, die das private, berufliche und gesellschaftlich wirksame Werk der jeweiligen Nachlasser:innen dokumentieren, und ein emotionales Spannungsfeld erzeugen können.

Verschachtelt und (v)erschlossen. Gefühlserkundungen im Archiv versammelt einen Teil der Vorträge, die im Rahmen der KOOP LITERA (23. Arbeitstagung der österreichischen Literaturarchive) im Juni 2022 am Adalbert Stifter Institut des Landes Oberösterreich/Stifterhaus Linz gehalten wurden, als auch die Ergebnisse eines interdisziplinären Workshops, der im Oktober desselben Jahres am Archiv der Zeitgenossen (Universität für Weiterbildung Krems) stattgefunden hat.4 Die Beitragenden sind dabei allesamt Archivar:innen, wissenschaftliche Mitarbeiter:innen in Archiven und artverwandten Institutionen, bzw. mit Archivarbeit vertraute Personen und bringen daher einen stark aus der Praxis gedachten Blick auf die Thematik ein.

1. Dilthey, Wilhelm. „Archive für Literatur “. Neue Rundschau 58 (1889): 360–375.

2. vgl. Meyer, Joachim. „Pedanten und Chaoten. Notizen zu einer Nachlass- und Nachlasser-Typologie“. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 49 (2002): 52–58.

3. Farge, Arlette. Der Geschmack des Archivs. Göttingen: Wallstein, 2011.

4. Zur vertiefenden Lektüre sei an dieser Stelle der ebenfalls aus den Tagungen hervorgegangene Band von Helmut Neundlinger und Fermin Suter empfohlen: Neundlinger, Helmut und Suter, Fermin (Hg.). Gespeicherte Gefühle. Über die Affekte im Archiv. Berlin, Boston: De Gruyter, 2024.

 

Hanna Prandstätter, geboren 1988 in Wien. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaften und der Austrian Studies. Seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Archiv der Zeitgenossen – Sammlung künstlerischer Vor- und Nachlässe an der Universität für Weiterbildung Krems.