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Priessnitz-Preis 2023 – Laudatio für
Bastian Schneider

Fr. 3.11.2023

// von Peter Rosei

Der Reinhard-Priessnitz-Preis, einer der wichtigsten österreichischen Auszeichnungen für Schreibende jüngerer Generationen, wird jedes Jahr Ende Oktober / Anfang November im Literaturhaus Wien verliehen. Bei der Verleihung am 30. Oktober 2023 wurde – ausgewählt von den Juroren Gustav Ernst und Robert Schindel – der deutsche Autor Bastian Schneider ausgezeichnet. Die Laudatio hielt – auf Wunsch des Preisträgers – der österreichische Schriftsteller Peter Rosei. Er hat uns seinen Text dankenswerterweise zur Veröffentlichung auf unserer Website überlassen.

 

Es freut mich, dass Bastian Schneider – im Folgenden werde ich mir erlauben, ihn meist mit Bastian anzusprechen – dass er sich gerade mich als Laudator gewünscht hat. Gut, ich war einmal für kurze Zeit sein Lehrer an der Akademie, das ist lange her. Bastians Wahl hat freilich auch ihr Risiko: Es ist die erste Laudatio, die ich in meinem Leben halte, als Festredner war ich auch nicht gerade gefragt – öfter dagegen bin ich bisher bei Beerdigungen guter Freunde als Redner aufgetreten, was immer das bedeuten mag.

Mit Reinhard Prießnitz, dessen Namen der Bastian zugesprochene Preis trägt, war ich nicht allzu gut bekannt. Gelegentlich heuerte ich mit ihm im Morgengrauen in der Stadt ein Taxi an, wir beide wohnten draußen in Währing, wo wir des Öfteren dann noch weiterdiskutierten und -feierten. Die poetischen Positionen von Prießnitz? „Poesie ist eine Form von Erkenntnistheorie“, erklärt er in einem Interview für eine amerikanische Zeitschrift, „das meint, sie ist eine Untersuchung über die Wege, wie Wissen zustande kommt. Die Funktion der Literatur ist also nicht einfach Unterhaltung … Literatur ist eher eine Konfrontation mit jenen Dingen, die gewisse Denkmuster erzeugen oder entstehen lassen … Poesie ist im Wesentlichen eine Form der Erfahrung, die zugleich über ihre kommunikativen Möglichkeiten nachdenkt.“

Einiges an diesen Positionen, wie leicht zu zeigen und zu sehen sein wird, trifft auf die Arbeiten Bastians durchaus zu, er ist also erst einmal ein Preisträger, der inhaltlich den Preis verdient.

Meine Poesie“, erklärt Prießnitz im selben Interview weiter, „ist eine Reaktion gegen den Positivismus … sie versucht die Konventionen der Konformität zu unterlaufen.“ Das trifft auf Bastian und sein Werk, kommt mir vor, ebenfalls zu. Und weiter: „Literatur ist keine direkte Transposition dessen, was einer erlebt. Sie enthält stets auch Überlegungen zur Form, zu den Bedingungen der ihr eigenen Existenz als Kunst.“

Habe ich mich mit der Poesie von Prießnitz bisweilen schwergetan, seinen Scharfsinn, seine Genauigkeit, seine Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie habe ich immer geschätzt.

Jetzt zu Bastians Flüchtigem Stück: „Im Schaufenster einer Buchhandlung lag eine tote Fliege vor den Bestsellern der Saison auf dem Rücken. Sie streckte ihre dünnen Beinchen in die Luft wie winzig kleine Antennen, die sich bei jedem Luftzug neu ausrichteten.“ Wenn ich etwa diesen kurzen Text von Bastian lese, bin ich entzückt von der Genauigkeit der Beobachtung, von der Ökonomie der Schilderung – da ist kein Wort zu viel, keins zu wenig – ich erfreue mich an der doppelten Ironie der Geschichte: Sind Bestseller eine Art toter Fliegen – oder, was ebenfalls gedacht werden kann, sind Leute, die eben keine Bestseller schreiben, und gerade sie, diese toten Fliegen, die im Vergleich zu den dominant daliegenden Bestsellern bloß ihre Beinchen in die Höhe strecken können, Beinchen, die sich noch dazu bei jedem Lüftchen neu ausrichten? Ironie und Selbstironie vom Feinsten!

Pampelmusenstück heißt der folgende Text: „Kurz nachdem die junge Dichterin angefangen hatte zu reimen, konzentrierte ich mich auf die kleine, goldene Ananas auf der nach hinten gedrehten Kappe meines Vordermannes.“ Was mich an diesem Text fasziniert, ist die Ironie, die zugleich doch sehr viel Welt einfängt: Wir sind sofort bei dieser Dichterlesung, hören die Reimworte, die nichts als Reimworte sind, unser Interesse an der Hervorbringung ebbt bereits ab. Dazu die irgendwie lässige, avantgardistisch sich gebärdende Atmosphäre des Ganzen, der etwas Modisches anhaftet, was angesichts dessen, was wir von Kunst uns erwarten und wünschen, lächerlich wirkt.

Von den beiden hier vorgezeigten Beispielen lässt sich zudem sagen: Bastian führt uns zwei Vorkommnisse vor, die spezifisch und lokal sind und doch wieder überall in der Welt vorkommen können. Vielleicht ist gerade das die Qualität, die ich am Werk von Bastian Schneider am meisten schätze, am höchsten halte: Ganz daheim und lokal sein! Zugleich aber weltläufig sein!

Aus der Sammlung: Die Schrift, die Mitte, der Trost bringe ich einen weiteren Text, der den Bezug zu den vorhin vorgestellten Positionen von Reinhard Prießnitz verdeutlichen möge, vielmehr, ihn deutlich ausstellt: Bruchstück: „Immer wieder muss ich an das Fragment eines Fleischerhakens denken, das ich vor einiger Zeit in der Vitrine der Antikensammlung gesehen habe. Dabei ist mir der Gegenstand als solcher nicht im Gedächtnis geblieben, und mittlerweile habe ich ihn in meiner Vorstellung durch einen verrosteten, hakenförmigen Gegenstand ersetzt, der wahrscheinlich keinerlei Ähnlichkeit hat mit dem Original. Allein die Bezeichnung hat sich mir eingegraben, gleichsam unter die Haut, als läge in ihr eine Verheißung – ein Fremdkörper, der in mir weiterlebt.“ – Das ist zum einen Epistemologie vom Feinsten; wie es eben zugeht (oder zugehen kann) beim Erwerb von Wissen: wie das Fremde zum Eigenen wird, vermeintlich ganz und gar – und tatsächlich?

Worauf ich an diesem Beispiel, stellvertretend, noch hinweisen möchte, ist die subtile sprachliche Gestaltung: Da heißt es einmal „in … DER Antikensammlung“ anstatt „in EINER Antikensammlung“: Es wird ja nicht mitgeteilt, in WELCHER, und also wäre das EINER das logisch Angebrachte; freilich würde dadurch das Intime, die spezifische Atmosphäre des Textes, sein gleichsam Privates, empfindlich gestört. Ferner heißt es: „… der wahrscheinlich keinerlei Ähnlichkeit hat mit dem Original.“ Die etwas exzentrische Stellung dieses HAT ist nicht nur darin begründet, dass im nachfolgenden Satz ebenfalls ein HAT vorkommt; vielmehr steht es deshalb an dieser Stelle, um die Musikalität des Gedankenganges nicht zu stören.

Als James Joyce für den Rundfunk aus Finnegans Wake vorlas bzw. vorlesen sollte, rief der zuständige Redakteur bald aus: „Aber so steht es doch nicht im Text, Herr Joyce!“ Worauf der repliziert haben soll: „Es geht doch um die Musik!“ Eine Anekdote, die mir lieb ist, hebt sie doch Wert und Macht der Musik in literarischen Texten hervor. Nach Lektüre von Bastians Texten darf ich eine ähnliche Gestimmtheit in dieser Hinsicht bei ihm vermuten.

Abzählstück: „In der Bushaltestelle hatte jemand mit groben Strichen drei Penisse über den Fahrplan gemalt. Daneben standen zwei Teenager mit Netzstrumpfhosen und Lackschuhen. Ihre Lippen waren schwarz bemalt. Auf der Straßenseite gegenüber saß ein Mann in der Morgensonne und zog den Schirm seiner Schiebermütze tiefer in die Stirn.“ – Nicht von ungefähr hat Bastian diesem Buchabschnitt ein Zitat von Robert Walser vorangestellt: „Schriftsteller sollen sich nicht darum, dass sie sich an das Großartige schmiegen, für groß halten, vielmehr in Kleinigkeiten bedeutend zu sein versuchen.“ Mit dem auf Bastians Werk von berufener Seite gemünzten Begriff Mikro-Erzählkunst kann ich so gar nichts anfangen, gelingt es ihm doch, ganz im Sinne Walsers, mit wenigen Worten Welt einzufangen und gleichzeitig eine Art philosophischen Befund über eben diese zu liefern. Was kann man von Literatur mehr wollen? – Am Ende einer kurzen Erzählung heißt es beim großen Röbi: „Man sieht schon so genug!“ – ein Diktum, das als Moral vieler Texte von Bastian gelesen werden könnte.

In eine ganz andere Richtung scheinen mir Texte wie etwa Glanzstück zu zeigen: „Im Café saß ein Mann. Aus seinem linken Nasenloch ragte ein kleines Haar. Die Haarspitzen glänzten in der Sonne. Die Sonne schien durch die Fenster. Am Fenster saß eine junge Frau und aß ein Schnittlauchbrot. Der Schnittlauch leuchtete grün. Auf ihrem rechten Handgelenk hatte die Frau einen aufgespannten Regenschirm tätowiert. Die Regenschirmspitze zeigte auf den Mann. Der Mann putzte sich die Nase. Das Nasenhaar glänzte.“ – Hier kommt der Schalk in Bastian zu Wort, freilich auch wieder der Philosoph, der etwa in der Art von Daniil Charms Sinn und Widersinn des Alltags mit Verve gegeneinander ausspielt – uns zur Belehrung und zum Vergnügen zugleich. „Das ist eigentlich alles“, heißt es in einem der Texte von Charms, der einen Mann vorstellt, der mit einem langen französischen Brot eine Straße hinabeilt, und das ist eben alles.

Ein Text aus dem Band Paris im Titel: Blaue Stunde: „Während der blauen Stunde ist der Himmel ewig, aber wenn ich das aufschreibe, sehe ich den Himmel nicht mehr, und auch die blaue Stunde nicht. Und wenn ich aufhöre, das hier aufzuschreiben, dann sehe ich mich nicht mehr.“ Fein rollt sich der Text in die Feder bzw. in die Tastatur des Computers zurück und lässt die Dinge dort, wo sie nun einmal sind: Draußen – für immer!
Ähnlich, allerdings von Übermut getragen und lustig funkelnd, funktioniert der Text Basta: „Ich gehe gern ins Café oder in eine Kneipe, bestelle mir ein kleines Bier, zahle es sofort, trinke es aus und bestelle mir ein zweites kleines Bier, zahle es sofort, trinke es aus und bestelle mir ein drittes kleines Bier, zahle es sofort und trinke es aus und schaue mich dabei im Café oder in der Kneipe oder wo auch immer um und rauche, weil das in den Cafés oder Kneipen oder Beisln oder was auch immer in einer Geschichte noch nicht verboten ist. Manchmal trage ich bei alldem einen Hut. Auch einen Hut zu tragen, ist in Geschichten nicht verboten, es ist geradezu erwünscht, damit jeder weiß, dass man sich in einer Geschichte befindet. Außerhalb von Geschichten sind Männer mit Hüten die Ausnahme geworden, mal abgesehen von ein paar modischen Gecken mit Aufmerksamkeitsdefizit, die es mich scheut Männer zu nennen. Wahrscheinlich wollen sich die Männer, die keine Hüte mehr tragen, nicht in irgendeine Geschichte verwickeln lassen, was ihr gutes Recht ist. Was die Gecken wollen, interessiert mich nicht. Im Moment trage ich jedenfalls keinen Hut, sondern trinke bereits mein viertes sofort bezahltes Bier im Café und schaue hinüber zu dem Mann in der Ecke da hinten. Er heißt Frans Holledau und ist Kunstfälscher oder Kalauer oder umgekehrt oder beides, das kann man von hier aus nicht so genau erkennen. Jedenfalls trägt er immer einen Hut. Woher ich das weiß? Nun, ich schreibe diese Geschichte schließlich und damit basta!“ Deuten diese beiden trefflich gelungenen Texte nicht an den Anfang meiner Ausführungen zurück? Wir sind also ein wenig im Kreis gegangen: „Literatur ist keine direkte Transposition dessen, was einer erlebt. Sie enthält stets auch Überlegungen zur Form, zu den Bedingungen der ihr eigenen Existenz als Kunst.“ – Und damit basta!

Mit meinen Ausführungen rund um Bastians Werk habe ich mich auf bloß zwei Bände der bisher erschienen vier beschränkt. Ich hoffe, es ist mir trotzdem gelungen, das zu Rühmende an seinem Werk gehörig glänzen und erstrahlen zu lassen.

Wie stand Reinhard Prießnitz eigentlich zu mir? – Eines Tages stehe ich seinerzeit in Währing vor einem dieser mit ROMANE überschriebenen Läden, in dem Fall ein aufgelassenes Milchgeschäft: Ich betrachte und studiere, es ist ein sonniger Nachmittag, die in der Auslage liegende Ware – Schundhefte allesamt: Kriminal-, Ärzte- und sogenannte Heimatromane – die man im Geschäft tauschen konnte. Da kommt Reinhard die Straße herunter, seinen kleinen Sohn an der Hand, bleibt stehen und sagt freundschaftlich gutartig, zugleich aber mit dem ihm eigenen Sarkasmus zu mir: „Da sieht man wieder, womit du dich beschäftigst!“

Lieber Bastian, ich gratuliere Dir ganz herzlich zum Preis und wünsche Dir für das Weitere alles Gute!

Der mit EUR 5.000 dotierte Reinhard-Priessnitz-Preis wird vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport finanziert und seit 1994 jährlich an Autor:innen vergeben, die in deutscher Sprache schreiben. Die Auswahl der Preisträger:innen erfolgt auf Vorschlag einer Jury, eine Einreichung ist nicht möglich.

Die Auszeichnung erinnert an einen der bedeutendsten Vertreter der Neuen Poesie, an den Wiener Autor Reinhard Priessnitz, der 1985 40-jährig in Wien gestorben ist.
Zuletzt ging der Priessnitz-Preis an Barbi
Marković (2019), Elias Hirschl (2020), Simone Hirth (2021) und Jana Volkmann (2022).

Peter RoseiFoto: © Gabriele Brandenstein

Peter Rosei, 1946 in Wien geboren. 1968 promovierte er zum Doktor der Rechtswissenschaften. Seit 1972 lebt er als freier Schriftsteller in Wien und auf Reisen. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Franz-­Kafka-­Preis 1993, Anton-­Wildgans-­Preis 1999, Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 2006, Goldenes Ehrenzei­chen für Verdienste um das Land Wien 2007 und Großes Ehrenzeichen für Verdiens­te um die Republik Österreich 2016.

Veröffentlichungen (Auswahl):

  • Brown vs. Calder. Gedanken zur Dichtkunst (Sonderzahl, 2015)
  • Die große Straße. Reiseaufzeichnungen (Residenz, 2019)
  • Ich bin kein Felsen, ich bin ein Fluss. Essays über Kultur und Politik (Sonderzahl, 2020)

Romane bei Residenz:

  • Wiener Dateien (fünf Bände im Schuber: Wien Metropolis, Das große Töten, Geld!, Madame Stern, Die Globalisten, 2016)
  • Karst (2018)
  • Das Märchen vom Glück (2021)
  • Das wunderbare Leben. Wahrheit und Dichtung (2023)
Bastian SchneiderFoto: © Silviu Guiman

Bastian Schneider wurde 1981 in Siegen (Nordrhein-Westfalen) geboren. Er studierte deutsche und französische Literatur in Marburg und Paris und Sprachkunst in Wien. Er lebt in Köln und Wien.
Auszeichnungen: Dieter-Wellershoff-Stipendium 2019, Dresdner Lyrikpreis 2018, Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW 2018, Förderpreis des Landes NRW 2017, Stipendiat des Atelier Galata der Stadt Köln in Istanbul 2017, Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium 2016, nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016.

Veröffentlichungen (Auswahl):

  • Vom Winterschlaf der Zugvögel (Sonderzahl Verlag, 2016)
  • Irgendwo, jemand (Gedichte. parasitenpresse, 2017)
  • Die Schrift, die Mitte, der Trost. Stadtstücke (Sonderzahl, 2018)
  • Paris im Titel (Sonderzahl, 2020)
  • Das Loch in der Innentasche meines Mantels (Roman. Sonderzahl, 2022)

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