22.05.2025, 07.03 Uhr. Mein Verleger Jürgen Schütz (Septime Verlag) und ich am Flughafen Wien Schwechat. Fürs Fliegen bin ich nicht gemacht, ohne Boden unter den Füßen, der hohe Norden ist aber doch zu weit entfernt für die Schiene. Fliegen also.
Durch den Security Check spazieren wir durch, wir haben genug Zeit. Zeit, Wasser zu kaufen. Zeit, Essen zu kaufen. Zeit zum Reden.
Wir fliegen pünktlich ab, kommen pünktlich am Flughafen Hamburg an. Es regnet, es ist kalt. Wir warten auf den Shuttle, der uns zum Nordkolleg Rendsburg1 bringen wird. Mit uns fahren auch Teilnehmende aus anderen Ländern. Wir wechseln in die englische Sprache, in der wir in den nächsten Tagen verweilen werden und tauschen erste Worte aus. Alle sind in guter Stimmung und wir verstehen uns sofort. Sind voller Vorfreude und spüren, dass uns das Schreiben eint.
Ankunft in Rendsburg. In bunten Buchstaben heißt uns die Stadt willkommen und trotzt dem grauen Himmel, aus dem es fortwährend tropft. Vorbei an lieblichen Häusern, backsteinfarben und märchenhaft anmutend, eingebettet in sattes, vom Regen durchtränktes Grün. Wie schön es hier ist!
An der Rezeption werden wir vom Organisationsteam des Literaturhaus Schleswig-Holstein herzlichst begrüßt. Wie die Reise gewesen sei, werden wir gefragt und ja, davor sei das Wetter freundlicher gewesen.
Gemeinsam mit dem polnischen Kollegen bin ich zu einem NDR-Interview über das Schreiben eingeladen, es soll gleich anschließend stattfinden. Dass mein erster Protagonist seinen Namen trage, ich den Text aber nie veröffentlicht habe, sage ich zum Kollegen. Er lächelt.
Das erste gemeinsame Abendessen steht an und hier überkommt mich auch zum ersten Mal das Gefühl, ich befände mich auf einer guten Klassenfahrt. Die gemütliche Kantine erinnert an eine Mensa (oh, der Schokopudding!), es ist Selbstbedienung. Wir schieben die Tabletts auf der Ablage entlang, beladen unsere Teller, befüllen unsere Gläser. Die Tische bieten Platz für mehrere Personen und ermöglichen erste Gespräche.
Beim anschließenden Literary Speed Dating lernen wir neben dem Organisationsteam, den Referent:innen und dem Übersetzer weitere Teilnehmende kennen: darunter Verleger:innen, Agent:innen, Lektor:innen, Autor:innen aus Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Polen, der Slowakei, Slowenien, der Schweiz und Tschechien. Es gibt Getränke, es wird geplaudert. Und irgendwann verlagern wir uns in ein Nebengebäude (ich nenne es den Barraum). Dort stehen Tische und Stühle aneinandergereiht, es gibt einen Kühlschrank, eine Stehbar. Der Raum ist bunt beleuchtet: Lichter in Violett, Rot, Orange, Blau. Aus einer schwarzen Box tönt Musik aus vergangenen Jahrzehnten. Ein Gefühl von Retro und Zusammengehörigkeit entsteht. Getrunken und gesnackt wird drinnen, geraucht wird draußen, geredet wird überall.
Nach und nach zerstreuen wir uns auf dem Areal in Grün in unsere Zimmer, die in verschiedenen Gebäuden gelegen sind. Um uns herum Wiesen, auf denen schottisches Hochlandrind grast, Wälder und Flüsse, Idylle pur. Die ideale Umgebung, um sich über Literatur auszutauschen und um laufen zu gehen. Das mache ich am nächsten Morgen, obwohl es stark regnet. Am Flussufer faucht mich aus der Ferne eine Graugans an, sie schützt ihre Jungen.
Schnell fühle ich mich wohl im Nordkolleg Rendsburg mit seinem lieblichen Garten, den versteckten Nischen, den Gebäuden zur Unterbringung, dem Speisesaal, dem Tagungsbereich, dem Barraum. Die Anlage ist ein Labyrinth, verwinkelt und verwunschen. Bis zum letzten Tag wird es uns nicht gelingen, es ganz zu durchschauen. Immer wieder verlaufen wir uns, laufen im Kreis, begegnen einander, aber überall ist es schön und die Verirrung sekundär.
Der Folgetag beginnt mit Vorträgen von Student:innen des Instituts für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, die uns Strömungen und Genres der Gegenwartsliteratur näherbringen. Mein Roman Dorf ohne Franz über patriarchale Strukturen in einer ländlichen Gegend und die Schwierigkeit, auszubrechen, reiht sich in das Genre des Dorfromans ein. Die Student:innen werden uns auch die folgenden Tage begleiten und genau dieser Austausch ist es, der so fruchtbar und schön ist, Literatur zum Leben erweckt und Diskussionen anregt.
Danach werden alle Bücher von den jeweiligen Autor:innen am Podium präsentiert und eingehend besprochen.. Interessante Fragen aus dem Kreis der Teilnehmenden und darauffolgende Antworten der Autor:innen ermöglichen einen tieferen Einblick in die vorgestellten Bücher.
Die Formen und Themen sind vielfältig, hochaktuell und zugleich zeitlos: eine Jugend auf dem Land zwischen Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Wut und dem Einstieg in die rechte Szene, die Zähmbarkeit der Natur und die Bildung streng überwachter Städte, entlegene Buchten mit engen Gemeinschaften, denen man zu entkommen sucht, Liebe in Zeiten der Leistungsgesellschaft und Klimakrise, Trauer, die sich in den Körper einschreibt, Minderheitengemeinschaften und Kriegsausbruch, die Pflege eines bedürftigen Geschöpfes, eine nicht-menschliche Existenz im Rahmen einer Familiensaga, alltäglichen Rassismus und Verschwörungstheorien, Suchen und Finden des eigenen Selbst, existenzielle Krisen der jungen Generation oder den gemeinsamen Suizid eines Paares. Mit der Enge familiärer und gesellschaftlicher Strukturen und dem Wunsch nach Ausbruch und persönlicher Entwicklung knüpft Dorf ohne Franz an manche Themen der anderen Autor:innen an.
Jedes Buch für sich ist ein wahrer Schatz und jedes einzelne der Kolleg:innen möchte ich lesen. Ich hoffe auf zahlreiche Übersetzungen in meine Muttersprache Deutsch.
Eine inspirierende Keynote beschließt den zweiten Abend. Wir kennen uns mittlerweile schon recht gut und gehen interessiert und vertrauensvoll miteinander um, Bücher werden getauscht, Erfahrungen geteilt, es wird viel gelacht.
Der Samstag steht ganz im Zeichen der Lesung im Literaturhaus Schleswig-Holstein. Davor gibt es noch Round Tables: einen für die Autor:innen, einen zweiten für die Teilnehmenden auf Verlags- bzw Agenturseite.
Was uns Autor:innen bewegt, ist vor allem der Stoff, über den wir schreiben und ob Literatur die Welt retten kann? Uns rettet sie auf jeden Fall, sind wir uns rasch einig.
Nach dem Mittagessen brechen wir nach Kiel auf. Und wieder: das Gefühl von Klassenfahrt. Grüppchen, Gespräche, ein Fußmarsch. Am Bahnhof Rendsburg steigen wir in den Zug nach Kiel ein. Dort angekommen, gehen wir am Hafen entlang zum Literaturhaus Schleswig-Holstein, das mitten im Botanischen Garten wie das Knusperhäuschen aus Hänsel und Gretel aussieht. Und wieder: diese Lieblichkeit. Vor dem Literaturhaus ist ein Zelt aufgebaut. Es gibt Kaffee und Kuchen, Fotos werden gemacht, die Spannung vor dem großen Lesefest steigt. Wir sind in drei Blöcke geteilt, dazwischen gibt es zwei Pausen. Ein Büchertisch mit unseren Werken ist aufgebaut, zahlreiche Besucher:innen werden erwartet.
Um 17.00 Uhr findet die erste Lesung statt. Autor:innen mit Deutsch als Muttersprache lesen die gesamte Textstelle selbst, Autor:innen mit anderer Muttersprache lesen in ihrer Landessprache, der zweite Teil wird jeweils von Sprecher:innen auf Deutsch gelesen. Die Autor:innen in ihrer jeweiligen Muttersprache lesen zu hören, ist mein persönlicher Höhepunkt des Festivals: Literatur zum Fühlen. Je mehr gelesen wird, desto gelöster wird die Stimmung. Es gibt Anfeuerungsrufe, es gibt Applaus, es gibt Freude, gibt Freudentränen.
Ich selbst lese aus meinem Buch Dorf ohne Franz im dritten Block und bin die vorletzte Autorin. Ich merke, dass auch von mir eine Anspannung abfällt, nachdem ich an meinen Platz zurückkehre.
Nach der Lesung stehen wir im Zelt (es schüttet wie aus Kübeln) und tauschen uns aus. Wieder Gespräche mit Student:innen, ich freue mich, dass sie sich mit Dorf ohne Franz so eingehend auseinandersetzen und viele Fragen stellen.
Gelöst fallen wir in die Sitze des Shuttles, der uns in Gruppen zurück nach Rendsburg fährt. Dort halten wir die gute Stimmung im Barraum. Einzig der Hunger, der an uns nagt. Und dann ist es soweit: Gegen Mitternacht wird Pizza geliefert, wir freuen uns wie Kinder und machen uns über die dampfenden Pizzastücke her. Geplauder, Gelächter. Bis auch diese Nacht ein Ende findet und wir am Sonntagmorgen ein letztes Mal als Gruppe zusammentreten, um uns über die intensiven und schönen Tage ein letztes Mal auszutauschen.
Die Abreise beginnt. Mit schwererem Gepäck als zuvor (die Bücher der Kolleg:innen!) und einem erfüllten Kopf reise ich mit Jürgen Schütz zurück nach Wien, meine Gedanken sind immer noch in Rendsburg. Ein letztes Selfie am Flughafen mit den Teilnehmenden aus Finnland, Frankreich und Polen, wir bleiben in Kontakt.
Das 23. Festival des europäischen Debütromans von 22.05.-25.05.2025 mit dreizehn teilnehmenden Ländern war grandios und inspirierend, bestens geplant und organisiert, der Blick über den Tellerrand, die Grenzen hinweg, das Netzwerken und Lernen über den Verlags- und Literaturbetrieb spannend und einzigartig.
Ich fände es schön, wenn der internationale literarische Austausch und die Zusammenarbeit inklusive der Förderung von Übersetzungen im Rahmen von ähnlichen Veranstaltungen und Fachtagungen zunehmend möglich gemacht würden. Nur so öffnet sich die Vielfalt der europäischen Literatur auch einer Vielzahl von Menschen unterschiedlicher Sprachherkunft.
Das Festival des europäischen Debütromans geht mit hervorragendem Beispiel voran und hat sich über viele Jahre sehr bewährt.
Mein herzlicher Dank gilt dem Literaturhaus Wien, dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, dem Literaturhaus Schleswig-Holstein, dem Institut Francais Kiel, dem Septime Verlag und insbesondere jenen Personen, die alle in unterschiedlicher Form dazu beigetragen haben, dass das Festival ein unvergessliches Erlebnis für mich bleiben wird.
Verena Dolovai, Juni 2025
1 Im Nordkolleg Rendsburg sind alle am Festival Teilnehmenden untergebracht. Dort finden auch die einzelnen Veranstaltungen der Fachtagung statt. Die gemeinsame Lesung aller Autor:innen wird hingegen im Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel abgehalten.