Woher wir kommen liefert mit seinen fundierten Textbeiträgen das gedankliche Fundament zur stark visuell orientierten, auf großformatige Fotografien, Objekte und Videomaterial setzenden Ausstellung. Diese ist ansprechend, kurzweilig und zeitgemäß, doch wer sich in das Thema vertiefen, laufende Diskurse nachvollziehen und die geografischen, sozialen, kulturellen und sprachlichen Herkunftsgeschichten einzelner Autor:innen genauer erforschen möchte, sollte keinesfalls auf das Buch verzichten.
Wie wird über soziale Herkunft, ökonomische Ungleichheit und Klasse erzählt? Welche Rolle spielen Migration und Mehrsprachigkeit in der Literatur? Diesen Fragen widmen sich ausgewählte Essays, Statements und eine Galerie individueller Herkunftsobjekte. Wie sehr Bilder, Familienfotos und Schnappschüsse die Erinnerung an unsere Herkunft prägen, machen private Fotografien von Autor:innen, Fundstücke von Arno Geiger, Polaroids von Peter Handke, Super-8-Aufnahmen der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux und Foto-Collagen der kanadischen Künstlerin Sandy Middleton deutlich. Zahlreiche Bildmaterialien aus der Ausstellung wurden in den Profile-Band übernommen und sorgfältig in das dezent abgetönte Farbkonzept eingepasst, das auch grobkörnigen, teilweise unscharfen Filmstills und alten Fotografien eine eigene Ästhetik verleiht und sie implizit mit der Unschärfe von Erinnerungen in Beziehung setzt. Exemplarisch dafür steht das Foto-Fundstück aus dem Besitz des Schriftstellers Arno Geiger auf dem Buchumschlag, das einen verschwommenen Blick aus einem Fenster hinaus in eine Waldlandschaft zeigt. Während die Bilder zum lustvollen Stöbern, Abschweifen und Querlesen verleiten, stehen die Kapitel Aufwachsen, Aufbrechen, Zurückkehren, Erinnern und Erfinden für biografische Wegmarken, anhand derer sich Herkunftsgeschichten nachzeichnen und inhaltlich ordnen lassen.
Ein Vorwort der Herausgeber:innen Cornelius Mitterer und Kerstin Putz sowie einleitende essayistische Beiträge von Maja Haderlap, Andrea Roedig, Eva Blome und Enno Stahl widmen sich zu Beginn der Entwicklung und verschiedenen Aspekten des Themas Herkunft, dem autobiografischen Schreiben als Aneignung und Abgrenzung, als Akt, der uns über die Eltern und damit auch über die Herkunft hinausbringt. „Das gilt am offensichtlichsten natürlich für all die Klassenwechsler:innen, die sich mit Bildung, dem Lesen, dem Schreiben am eigenen Schopf herausziehen wollen aus den engen Verhältnissen, oder die mit dem Schriftstellern ihr Nicht-Hineinpassen in dieses Milieu besiegeln.“ (Roedig, S. 23)
Entscheidende Impulse für das große Interesse an literarischen Herkunftserzählungen kamen aus Frankreich. Neben Didier Eribon und Édouard Louis steht vor allem die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Annie Ernaux für eine literarische Form, die sie selbst als „autosoziobiografisch“ bezeichnet. Kindheit und Sozialisierung, Geschlechterrollen, Klassen- und Gewalterfahrungen werden zugleich mit einem soziologischen und literarischen Blick geschildert. Schon in den 1970er Jahren befasste sich sozialkritische Literatur auch in Österreich intensiv mit der Lebensrealität von Arbeiter:innen, einfachen Angestellten und „Kleinhäuslern“. Neu an der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit sozialer Herkunft, Ungleichheit, Zugehörigkeit und Identität sind jedoch „postmigrantische“ Perspektiven. Schriftsteller:innen wie Nava Ebrahimi, Julya Rabinowich oder Ilija Trojanow widmen sich Aspekten der Herkunft und Interkulturalität, wollen ihr Werk jedoch wie viele andere nicht darauf reduziert wissen. (Mitterer, Putz, S. 10) Die in Südkorea geborene österreichische Schriftstellerin Anna Kim schreibt in der „Galerie der Dinge“ zu einem Bild, das ihr Vater gemalt hat: „Woher kommst du? ist eine Frage, mit der ich aufgewachsen bin, sie gehört scheinbar zu mir wie mein Alter oder meine Haarfarbe. Sie verfolgt mich nach wie vor, meine Antwort aber hat sich geändert. Ich komme aus einer Künstlerfamilie, sage ich heute, mein Vater war Künstler, und ich wuchs mit seinen Bildern auf.“ (S. 68)
Insgesamt zehn in Österreich lebende Autor:innen mit Migrationshintergrund – Kaśka Bryla, Ann Cotten, Nava Ebrahimi, Milena Michiko Flašar, Omar Khir Alanam, Anna Kim, Radek Knapp, Barbi Marković, Fiston Mwanza Mujila und Vladimir Vertlib – folgten der Einladung, einen persönlichen Gegenstand auszuwählen, den sie mit ihrer eigenen Herkunft verbinden, und in einem Statement seine Geschichte zu erzählen. Ob ein Kupferarmband aus dem Kongo, ein iranischer Pass, ein Teelöffel, ein Tennisschläger oder eine japanische Puppe – oft sind es starke Erinnerungen, die sich an konkrete Dinge knüpfen. Die aus Serbien stammende Barbi Marković interpretiert die Aufgabe mit dem ihr eigenen Humor und präsentiert ein fiktives Objekt: das mysteriöse Krokodilsmedaillon aus ihrem Roman Die verschissene Zeit, in dem drei Jugendliche versuchen, den 1990er-Jahren im kriegsgebeutelten Belgrad mit einer Zeitmaschine zu entkommen. (S. 73) Diesem ebenso tragischen wie grandios komischen Roman ist ein eigener Aufsatz von Katharina Manojlovic gewidmet.
Neben der „Galerie der Dinge“ bringen auch die Textbeiträge der aus Zagreb bzw. Zürich stammenden Autorin Ivna Žic (Die Eulen der Herkunft) und des Ungarn László Krasznahorkai (Ein Stummer zum Tauben) internationale Stimmen in den Band, der sich ansonsten natürlich vielen Autor:innen widmet, die im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek gesammelt und erforscht werden. Texte von Adelheid Popp, Alfons Petzold, Manès Sperber, Christine Lavant, Erich Fried, Christine Nöstlinger, Anita Pichler oder Monika Helfer berichten vom Aufwachsen in unterschiedlichen Milieus, Autor:innen wie Franz Innerhofer, Gernot Wolfgruber, Theodor Kramer und Elfriede Jelinek vom Aufbrechen im mehrfachen Sinn, von Klassenwechsel und sozialer Mobilität einerseits, Migration und Flucht andererseits.
Der Wiederbegegnung mit der eigenen Herkunft widmen sich Bücher wie Peter Handkes Wunschloses Unglück (1972), die Biografie seiner Mutter nach deren Suizid, für die der Autor in seinen Kärntner Heimatort Griffen zurückkehrte, oder (im Bildteil) Erich Hackls Dieses Buch gehört meiner Mutter (2013), in dem der Autor die Lebensgeschichte seiner aus bäuerlichen oberösterreichischen Verhältnissen stammenden Mutter nachzeichnet. Auch eine Druckfahne zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Drei Wege zum See ist hier abgebildet.
Eine Rückkehr anderer Art ist jene der Emigrant:innen Hilde Spiel und Günther Anders, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Exil in ihre Geburtsorte zurückkehren. Dass Herkunft mit traumatischen Kriegserlebnissen und schmerzhaften Familienerinnerungen verbunden sein kann, wird auch in den Texten und Lebensdokumenten von Elfriede Gerstl, Robert Schindel, Florjan Lipuš und Maja Haderlap deutlich. Vom spielerischen Umgang mit Herkunft und Identität zeugen schließlich Ödön von Horváths ironische Selbstauskünfte, die findigen Überlebenstechniken des Schriftstellers und Rechtsanwalts Albert Drach, ein Groschen-Laden im Werk Vera Ferra-Mikuras und nicht zuletzt die vielen Alter Egos des Verwandlungskünstlers H.C. Artmann.
Eine ganze Reihe weiterer Autor:innen, die sich nicht in den Textbeiträgen finden, sind mit Fotos sowie Manuskript- und Typoskriptauszügen in den Bildstrecken des Bandes vertreten, etwa Erich Fried, Theodor Kramer, Thomas Bernhard, Marlene Streeruwitz, Kurt Palm oder Arno Geiger. Die kürzlich verstorbene Barbara Frischmuth, die mit ihrem Roman Woher wir kommen (2012) immerhin den Ausstellungstitel angeregt haben könnte, findet sich leider nur in einer Randnotiz im Kapitel Aufwachsen, ebenso ihre Autorenkollegen Peter Henisch und Julian Schutting. Die doppelseitige Bildcollage zeigt drei Kinderbücher, die in autobiografisch grundierten Texten der drei Autor:innen eine Rolle spielen (S. 118-119).
In Summe sind die Ausstellung und ihr Begleitbuch jedoch äußerst gelungen und letzteres vermittelt auf kompakten 260 Seiten eine ganz erstaunliche Fülle an Eindrücken und Informationen sowohl für ein Fachpublikum als auch für interessierte Leser:innen österreichischer Literatur.
Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien, Abschluss 1992, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins im Literaturhaus Wien.