#Roman

Zur Zeit der
Schneefälle

Hanno Millesi

// Rezension von Marcus Neuert

Wenn der Mitmensch zur Bühnenfigur wird

In Hanno Millesis Roman Zur Zeit der Schneefälle wird durch ein unerklärliches Loch in der Wand die Welt der Nachbarn zum Theaterstück und das wahre Leben zur unbewältigten Überforderung.

Niemand hatte vor, eine Mauer einzureißen: Plötzlich sehen sich zwei Haushalte in einem städtischen Acht-Parteien-Haus mit dem unerklärlichen Phänomen konfrontiert, dass die Wand ihrer beiden aneinandergrenzenden Wohnzimmer nach und nach zerfällt. Diese Anleihe aus dem Bereich des Phantastischen nutzt der Wiener Autor Hanno Millesi, Jahrgang 1966, als Ausgangspunkt für ein literarisches Kammerspiel, welches sich ansonsten ganz und gar auf dem Boden der – natürlich fiktional aufbereiteten – „wirklichen“ Welt abspielt.

Rainer ist gerade von seiner Freundin Hanne verlassen worden. Gleichzeitig hat er sich für eine berufliche Auszeit aus der Redaktion eines Boulevard-Magazins zurückgezogen. Mit seiner Zeit weiß er nichts anzufangen. Als er eines Tages ein zunächst nur etwa faustgroßes Loch in seiner Wohnzimmerwand entdeckt, ist Rainer gezwungen, sich mit seinen Nachbarn, dem Ehepaar Nolde auseinanderzusetzen. Niemand scheint für den Schaden verantwortlich zu sein; die Verblüffung beider Parteien führt zunächst dazu, das Loch von beiden Seiten zu verhängen und zu ignorieren. Doch als der Durchbruch sich stetig rätselhaft vergrößert, kommt den Bewohnern nach und nach immer mehr ihre Privatsphäre abhanden; ihre Handlungen nehmen den Charakter einer kammerspielartigen Bühnenaufführung für die jeweils andere Seite ein. Auch die dann doch durch die Initiative von Frau Nolde hinzugezogenen Baufachleute können das Geheimnis nicht lüften.

Rainers Mutmaßungen über seine Nachbarn, seine innere Leere durch den Verlust seiner Beziehung zu Hanne und sein vollkommen eintöniges Dahinleben führen zu einer literarischen Melange, die nach und nach Rainers tiefe Einsamkeit herauspräpariert. So verfolgt er etwa die Entwicklung dreier verschiedener Radionachrichten, eines Streiks auf einer Bohrplattform in der Nordsee, die eskalierenden Demonstrationen um ein neues städtisches Wohngebiet, vor allem aber das rätselhafte Verschwinden eines Altarbildes aus einer Dorfkirche. Mit der Reflexion dieser Ereignisse verbindet der Autor Hanno Millesi geschickt einerseits die Seelenlage seines Protagonisten und andererseits die Entwicklung der Geschehnisse in dessen unmittelbarem Umfeld. Hat Frau Nolde einen heimlichen Liebhaber? Handelt es sich bei dem verschwundenen Bild gar nicht um das Original eines unbekannten Meisters, sondern um eine Fälschung? Welche Rolle spielt der Sohn der Noldes, der nach einer gescheiterten Beziehung in die elterliche Wohnung zurückkehrt? Was verbindet auf einer unausgesprochenen Ebene Rainer und seinen Nachbarn Herrn Nolde?

Das beschauliche Biedermeier der beiden Parteien wird jedenfalls gründlich durchgerüttelt, je mehr sich die Wand auflöst, bis am Ende fast nichts mehr von ihr vorhanden ist und die beiden Wohnzimmer wie eine gegenseitige Bühnen-Spiegelung die permanente Lebens-Überforderung ihres jeweiligen Figurenpersonals offenbaren. Enttäuschungen, Träume, Wünsche und das ambivalente Hin-und-her-geworfen-Sein zwischen der Suche nach Nähe und dem Wunsch nach Privatsphäre bestimmen das improvisierte Stück für die jeweiligen Nachbarn.

Alle Konflikte bleiben in der Schwebe, auch die der äußerlichen Welt, jener „Hölle aus Verkehr, Lärm und den anderen“ (S. 8). So meldet sich zwar im Internet eine Vertraute der verstorbenen Malerin des verschwundenen, tatsächlich aber gegen das ursprüngliche ausgetauschten Bildes zu Wort, doch die Hintergründe der ganzen Angelegenheit bleiben spekulativ.

Ihr Auftrag hatte darin bestanden, sämtliche Figuren, die auf dem Vorgänger-Bild zu sehen gewesen waren, beizubehalten, sie jedoch in einem anderen Verhältnis zueinander wiederzugeben […] Was die abgebildeten Personen miteinander zu schaffen hatten, blieb weitgehend im Unklaren, worüber der Pfarrer, der als ihr Auftraggeber fungierte, zur Überraschung derjenigen, die das Bild gemalt hatte, beinahe erleichtert gewesen sein soll. (S. 226)

Das Interview mit der Lebensgefährtin der Künstlerin offenbart auf einer zweiten Ebene jenes fast schon erratisch anmutende Verhalten, mit welchen sich auch das Romanpersonal im Allgemeinen und der Protagonist Rainer und seine Antagonisten, das Ehepaar Nolde, im Besonderen begegnen. Hanno Millesi dekonstruiert durch das Geschehen bürgerliche Konventionen des nachbarschaftlichen und allgemein-menschlichen Miteinanders. Und wenn am Ende der zu Rate gezogene Fachmann und seine Gehilfin mit den ganz und gar un-phantastischen Methoden des Maurerhandwerks die Wand wieder hochziehen, wird dadurch der Status quo ante nur scheinbar wieder hergestellt. Alle Beteiligten haben, zumindest in der Sichtweise durch die stets nahe bei Rainer angesiedelte Erzählinstanz, an Erfahrung über ihr eigenes Wesen, ihre heimlichen Träume und Wünsche und die Vertracktheiten ihres Beziehungsgeflechts gewonnen.

Und was nimmt Hanno Millesis Lesegemeinde daraus für sich mit? Man hat das Gefühl, ein Buch gelesen zu haben, zu welchem einem als Fazit jenes Foto des unendlichen Weltraums einfällt, unter dem geschrieben steht: „Don’t take things so seriously. Remember: You are here“, wobei das „here“ mit einem Pfeil irgendwo im Gewimmel der namenlosen Himmelskörper bezeichnet ist.

Braucht es für diese Erkenntnis einen Roman mit 230 Seiten? Wer dies für sich verneint, sollte allerdings bedenken, dass die meisten Bücher ohnehin geschrieben werden wollen, man weiß oft nicht einmal als Autor so recht warum, und damit die Frage also bereits falsch gestellt ist, denn auch das individuelle Urteil ist vor dem Hintergrund dieser Lebenshaltung so irrelevant wie ein Meteoritenschauer in viertausend Lichtjahren Entfernung. Was bleibt, ist hingegen der Eindruck, dennoch ein paar Stunden geistanregend unterhalten worden zu sein, und das ist immerhin mehr, als die meisten zeitgenössischen Romanveröffentlichungen im Allgemeinen vermögen.

 

Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.

Hanno Millesi Zur Zeit der Schneefälle
Roman.
Wien: Sonderzahl Verlag, 2025.
180 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85449-672-4

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Hanno Millesi

Rezension vom 10.07.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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