#Biografie

Unfreiwillige Wanderjahre.

// Rezension von Dorothée Döpfer

Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente.

„Zu erkunden, daß Hitler für mich gut war, wäre eine Verhöhnung der Millionen, die er auf dem Gewissen hat. (…) Dennoch ist es eine Tatsache, daß ich durch die explosionsartigen Ausbrüche des Hitlerismus in die freie Luft geschleudert wurde, wo ich längeren Atem und einen weiteren Ausblick gewonnen habe, als wenn ich in der heimatlichen Enge geblieben wäre.“

Kommunikation heißt das Schlüsselwort, das den emeritierten Germanistikprofessor Egon Schwarz aus St. Louis – neben Exilpersönlichkeiten wie Stefan Zweig, Anna Seghers, Thomas Mann oder Theodor W. Adorno eine vielleicht weniger prominente, aber doch sehr charakteristische Persönlichkeit der Exilzeit -, dazu bewegte, seine Lebensgeschichte in Form seiner Autobiographie „Unfreiwillige Wanderjahre. Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente“ zu schildern.
Es handelt sich hier bereits um die zweite Veröffentlichung seiner Memoiren, die er bereits 1992 unter dem Titel „Keine Zeit für Eichendorff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre“ publiziert hat.

Was macht Egon Schwarz‘ Lebensgeschichte lesenswert?
Es ist der ständige Wechsel zwischen Witz und Tragik, der den Leser an diesem Buch fesselt.
Der 1922 als Sohn ostjüdischer Einwanderer in Wien geborene Autor muss seine Heimatstadt aufgrund des zunehmend antisemitischen Klimas bereits 1938 fluchtartig verlassen. Mit viel Ironie und einem Hauch Wehmut beginnt Egon Schwarz im Anfangskapitel seine ersten 15 Lebensjahre in Wien zu schildern.
Aufgewachsen in kleinen Verhältnissen außerhalb des jüdischen Milieus und bis auf eine kurze episodenartige Hinwendung zum Judentum im Alter von 14 Jahren religionsfrei stellt sich Egon Schwarz dem Leser dar.

Im zweiten Kapitel der Autobiographie erhält der Leser Einblicke in Schwarz‘ dramatische Flucht zu den Großeltern nach Bratislava. Dort angekommen, wird der Familie des Autors schnell klar, dass sie in die falsche Richtung geflohen ist und die Rettung vor Hitler im Westen liegt. Trotz Hilfe der Verwandtschaft folgen Deportation und Vertreibung in das Niemandsland zwischen Ungarn und der Slowakei. In eindringlichen und den Leser bewegenden Worten beschreibt Egon Schwarz den Herbst 1938, campierend in Kälte und hungernd, verharrend mit unzähligen anderen Flüchtlingen im Niemandsland. Nur durch den mutigen Einsatz des Onkels schafft es die Familie ohne gültigen Pass und Finanzen – nur im Besitz des eigenen Lebens – nach Prag zu flüchten. Der jüdische Hilfsverein (HJCEM), der sich wie ein roter Faden durch Schwarz‘ weiteres Leben ziehen wird, stellt den rettenden Anker für die Flucht nach Lateinamerika dar. 1939 erhält die Familie schließlich mit Hilfe des HJCEM ein Einreisevisum für Bolivien.

In der Tradition des Schelmenromans erzählt Schwarz nun episodenartig und den Leser immer wieder zum schmunzeln bringend seine Erlebnisse in Lateinamerika von 1939 bis 1947. Oft vermischt der Autobiograph seine politischen Ausführungen zur Lage 1939-1944 mit Perspektiven der heutigen Zeit, trotzdem schafft er es immer wieder, den Leser mit alltäglichen Erlebnissen wie dem Besuch einer bolivianischen Behörde oder der Suche nach Arbeit und Unterkunft in den Bann seiner Exilerfahrungen zu ziehen.
Neben der Schilderung eigener Erlebnisse gibt Schwarz auch Einblicke in das Schicksal anderen Exilanten und Emigranten, die nach der Überwindung des ersten „Kultur-Schocks“ versuchen, ihren Platz in der noch sehr hierarchisch und kolonialistisch geprägten lateinamerikanischen Gesellschaft zu finden.

Das Jahr 1945 stellt die Familie Schwarz vor eine das weitere Leben entscheidende Frage. Wohin soll die Reise führen? In die USA, zurück nach Bolivien oder in ein weiteres lateinamerikanisches Land? Die Rückkehr nach Europa, so Schwarz, kam für die Familie nicht in Frage, denn aus Emigration war Immigration geworden.
Ecuador, so Schwarz, stellt den ersten Schritt in Richtung eines geordneten Lebens und 1947 ein Ende seines Episodendaseins dar.

Im letzten Kapitel des Buches nimmt man in rasendem Galopp an der Wandlung des Autors vom „Pikaro“ zum Akademiker und somit an dessen intellektueller Aufholjagd teil.
Durch eine Krankheit zu einem Kurzaufenthalt nach New York gekommen, ergreift Schwarz der intellektuelle Eifer. Er reist nach Cambridge, um an der Universität Harvard einen ehemaligen Wiener Klassenkameraden zu besuchen.
Wieder in Bolivien, widmet sich der Autor dem Nachholen von Abitur und Studium. Seiner eigentlichen Leidenschaft, der Literaturwissenschaft, kann Schwarz zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachgehen. Detailliert beschreibt der Autor seine Bewerbungsbemühungen an Universitäten weltweit. Der Leser leidet mit dem 26jährigen Egon Schwarz mit, der in mühevoller Kleinarbeit Zeugnisse abschreibt, Schriftproben seiner Essays versendet und sich das Porto für die Bewerbungen als Nachhilfelehrer erarbeitet.

Die nun folgenden 30 Jahre seines Lebens rafft Egon Schwarz auf 30 Taschenbuchseiten zusammen. Er beschreibt sein Studium an der „Washington State University“ in St. Louis und diverse akademische Stationen.
Die breite Auseinandersetzung des Autors mit der Rolle der USA in den politischen Weltkonflikten lässt den mehr oder weniger kontinuierlichen roten Faden der Autobiographie schließlich abreissen.
Egon Schwarz nimmt dabei eine sehr kritische, fast Amerika-feindliche Haltung ein.
Zwar versucht er in seinem dreiseitigen Resumée nochmals den Bezug zu seinem Leben auf drei Kontinenten herzustellen, ein strukturiertes Endbild seiner Autobiographie gelingt ihm jedoch nur in Teilen.
Trotzdem überzeugt das Buch durch sprachliche Gewandtheit und die Beschreibung des Exils in lebendigen Bildern.

Autobiographie.
München: C. H. Beck Verlag, 2005.
258 S.; brosch.
ISBN 3-406-52836-8.

Rezension vom 18.09.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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