2022 dazu eingeladen, im Sommersemester 2024 an der Universität Salzburg die Stefan-Zweig-Poetikvorlesung zu halten, malt die Autorin sich ihren Auftritt noch prächtig aus: Die Haare glänzen, das Pult funkelt golden, die Rednerin ist eloquent wie nie, am Ende Standing Ovations: „Wir wollen Marković!“, ruft das Publikum im vollbesetzten Hörsaal. Arbeitsfroh und hoffnungsreich ist die Autorin nach ihrer Zusage, als Dozentin die Nachfolge von Jaroslav Rudiš, Sherko Fatah und Anna Kim anzutreten, guter Dinge: „In zwei Jahren komme ich daher und rocke die Poetikvorlesung.“ (S. 7) Aber die Zeit verrinnt, Ablenkung folgt auf Ablenkung. Wird am Ende doch alles „ein bisschen schäbiger als in meiner Vorstellung“? (S. 8) Zumal das fixierte Datum bedrohlich näher rückt: In zwei Wochen ist Poetikvorlesung, und – mit Ausnahme einer großspurigen Ankündigung – noch keine Zeile geschrieben.
Barbi Marković hat Stehlen, Schimpfen, Spielen als Countdown angelegt. Sie präsentiert das Buch als verzweifelten Versuch, in den verbleibenden Tagen, against all odds, doch noch eine Poetikvorlesung zustande zu bringen: genug Text, um drei angekündigte Termine zu bespielen. „Es entstehen unfassbar schlechte Sätze, aber ich muss alle nehmen, sonst geht sich das nicht aus.“ (S. 11) Und das, wo Marković sich doch stolz auf die Fahnen schreibt, die „Marie Kondo der Literatur“ zu sein, eine Verfechterin des Streichens und Kürzens eigener Texte: „If it doesn’t spark joy – weg damit in die Mülltonne.“ (S. 92) Stehlen, Schimpfen, Spielen zeigt uns eine Autorin in der Zwickmühle: mit hohen Ansprüchen, aber wenig Zeit.
Die Geburt der Poetikvorlesung aus dem Geiste der Prokrastination also: Während die Uhr tickt, unternimmt Barbi Marković einen Streifzug durch ihr literarisches Werk. Das Debüt Izlaženje veröffentlichte sie 2006 im Belgrader Verlag Rende, drei Jahre später erschien es unter dem Titel Ausgehen in der Übersetzung von Mascha Dabić auf Deutsch in der Edition Suhrkamp. Dass sie den ersten Erfolg mit einem Remix von Thomas Bernhards Erzählung Gehen feierte (und sich das Recht dazu bei Suhrkamp ertrotzte), war ein stimmiger Auftakt ihres literarischen Werdegangs: eine Aneignung hart an der Grenze zum Eigentumsdelikt, unverschämt und ungemein lustig.
Es folgten das experimentelle Graz, Alexanderplatz (Leykam, 2012) sowie bei Residenz die Romane Superheldinnen (2016) und Die verschissene Zeit (2021), außerdem der Erzählband Minihorror (2023), für den sie mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien das famose Piksi-Buch (Voland & Quist, 2024), zugleich Seiten- und Glanzstück von Markovićs bisherigem Œuvre: Versteckt in einer Geschichte vom Fußballfanatismus des eigenen Vaters, ist im Piksi-Buch vieles von dem, was Stehlen, Schimpfen, Spielen verhandelt, schon angelegt.
Eine „klassische“ Poetikvorlesung darf man sich, das wird rasch klar, unter dem Regime der Zeitnot nicht erwarten, auch weil die Autorin die Prätention, drei Abende lang vor Publikum über ihr Schreiben nachzudenken, beständig ironisiert: „Wie willst du das schaffen, Barbi Marković?“ (S. 11) Das Skizzenhafte und betont Unperfekte macht den Reiz ihrer poetologisch-autobiographischen Überlegungen aus, und die Idee, die Poetikvorlesung selbst als Akteurin einzuführen, hat großes humoristisches Potential: „Die Poetikvorlesung liest den Text, den ich bisher geschrieben habe. In ihrer kleinen Küche in ihrem Negligé blättert sie hektisch im Skriptum. Sie weint, und die Mascara läuft ihr die Wangen hinunter. Sie sagt: Ich wollte Benjamin, ich wollte Vonnegut, ich wollte Virginia Woolf!“ (S. 59)
Die Poetikvorlesung ist enttäuscht, dass ihre Verfasserin die Genrekonventionen so wenig ernst nimmt: ein typischer Marković-Move. Ein andermal muss die Poetikvorlesung gestehen, „noch nie etwas von meinem Buch Graz, Alexanderplatz gehört“ zu haben, und sie bettelt: „Wie ist das Buch entstanden, erzähl mir alles!“ (S. 47) Ebenso wie ihre Prosa, leben auch die poetologischen Reflexionen der Autorin von ironischen Brüchen, von der Verschränkung von high und low, vom Widerstand gegen ein allzu akademisch-gravitätisches Verständnis von Literatur.
Das macht den Charme von Stehlen, Schimpfen, Spielen aus, birgt aber auch die Gefahr, dass hinter der beständigen Selbst-Ironisierung die Dringlichkeit und literarische Konsequenz von Markovićs Schreiben ins Hintertreffen gerät. Während die Pointen oft fast zu routiniert gesetzt sind, gelingen ihr ungemein starke Passagen gerade dort, wo sie Prinzipien und Eigenart ihrer Literatur endlich ernst nimmt: Das titelgebende „Spielen“ etwa meint bei Marković nicht bloß den freien Umgang mit Formen und Konventionen, sondern auch das Interesse am Spiel als soziale Interaktion und kulturelle Praxis.
So zeigt die Autorin, wie sich Plot und Figuren des Romans Die verschissene Zeit aus einem Rollenspiel mit Freund:innen entwickelt haben. Das gemeinsame Spiel wird für die Autorin zum Vehikel, sich der eigenen Jugend im Belgrad der 1990er Jahre zu vergewissern, und Voraussetzung dafür, „einen Roman über diese schreckliche, interessante Zeit schreiben zu können“ (S. 124). Der Umweg über das Spiel ermöglicht es ihr, das autobiographische Material freier zu modellieren: Die verschissene Zeit ist in diesem Sinne ein „Reenactment mit kleinen Eingriffen“, wo jene, die sich ‚in echt‘ nicht zu helfen wussten, immerhin in der Fiktion mit Redemacht und „Schimpfbegabung“ ausgestattet sind: „Kasandras Tiraden waren eine Möglichkeit, das Mädchen von Banovo brdo durch einen Sprechakt groß zu machen.“ (S. 87f.)
Vom Großmachen im Sprechen und Schreiben, von Selbstermächtigung und Hybris, handelt dieses Buch immer wieder, nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Migration und Sprachwechsel. Auch auf die allzu oft wiederholte Frage, wie es ist, in mehreren Sprachen zu denken und zu schreiben, findet Marković prägnante Antworten: „1. Es ist mühsam“ – „2. Es ist möglich“ – „3. Und es ist schön“ (S. 73–75).
An die erzählerische Verve und anarchische Komik von Minihorror und Piksi-Buch kommt Stehlen, Schimpfen, Spielen zwar nicht heran. Als betont fragmentarische Bilanz des bisherigen Schaffens hat diese Poetikvorlesung, die keine Poetikvorlesung sein will, aber zweifellos ihren Reiz.
Harald Gschwandtner, geb. 1986, Literaturwissenschaftler, Kritiker und Lektor, Senior Scientist im Literaturarchiv Salzburg. Veröffentlichungen zur österreichischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, u. a. Strategen im Literaturkampf. Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik (Böhlau, 2021).