#Roman
#Debüt

Schweben

Amira Ben Saoud

// Rezension von David Hoffmann

In einer abgeschotteten Siedlung, die von einem nicht näher definierten „System“ regiert wird, bietet eine namenlose Heldin sogenannte Begegnungen an: Sie imitiert für ihre Auftraggeber:innen Personen aus deren Vergangenheit.

 

In der Hook, überschrieben mit „Vorspiel: Drinnen“, werden in auktorialer Erzählperspektive gleich Fragen aufgeworfen und Spannung aufgebaut, denn etwas Verbotenes ist geschehen: Gewalt wurde ausgeübt. Junge Grenzwachen überraschen Kids dabei, wie sie einen sterbenden Menschen verscharren.

Im ersten Kapitel wechselt der Roman dann schlagartig in eine personale Erzählperspektive, und wir lernen die Protagonistin kennen. Wir lesen ihren Bericht – für wen genau, bleibt ebenso unklar wie ihr Name. Obwohl auf den ersten vierzehn Seiten Fließtext gleich einige Namen auftauchen – Sasha, Juri, Anouk, Luis, Olav, Ona, Emma, Merve, Gil (S. 7 bis 20) –, gehört keiner davon zur Protagonistin selbst. Auch Namen, die ihr beim Vorbeigehen von „Huren“ zugerufen werden – Nives, Wera, Mei, Eva, Lou, Asra (S. 20) –, sind darunter. What’s her name is the name of the game – und dieses Game wird erst gegen Ende aufgelöst. Zunächst bleibt der Roman bei der Exposition, der Erläuterung des Settings und dem dystopischen World-Building. Hier zeigt sich ein beeindruckender Ideenreichtum. Einige bedeutende Eckpunkte dystopischer Erzählungen finden ihren Platz:

  1. Örtliche Abgrenzung
  2. Eigene Begrifflichkeiten
  3. Ein ungewöhnliches Regelwerk

Die Menschen leben in Siedlungen, die abgesehen vom kontaktlosen Handel keinen Austausch miteinander haben. Wer die Herrschaft ausübt, bleibt unklar; sie wird schlicht „Das System“ genannt – gesichtslos und zugleich allgegenwärtig. Nur seine Verbote sind greifbar.
Zu Beginn gibt es einige wenige davon, etwa das Verbot der „Ausübung von Gewalt“ (S. 22) und das Verbot des „Strebens nach mehr und [der] Akkumulation von Wissen um das Davor und Draußen“ (S. 22). So kennt die Protagonistin keine Bewegtbilder – Redewendungen wie „bewegte mich wie in Zeitlupe“ (S. 135) sind jedoch erhalten geblieben.

Parallel zur Welt wird die Praxis der „Begegnung“ eingeführt. Sie ist eine Mischung aus Sozial-, Therapie- und Sexarbeit (in der Regel ohne tatsächlichen Sex). Die Protagonistin ahmt Ex-Partnerinnen, Schwestern oder Töchter nach. Was zunächst wie eine institutionalisierte Praxis innerhalb der dystopischen Welt wirkt – vergleichbar den Romanen von Margaret Atwood oder Philip K. Dick –, entpuppt sich als Spezialität der Protagonistin, tief verankert in ihrer traumatischen Biografie. Sie ist „mit einem äußerst durchschnittlichen Aussehen gesegnet, einer dieser Menschen, die einfach in der Menge untergehen, mit einem wandelbaren Gesicht und Körper“ (S. 27) – ideale Voraussetzungen für Imitation. Nur Tote will sie nicht darstellen: „Etwas hielt sie davon ab“, und allein der Gedanke daran, „die Toten wiederzubeleben“, verursacht ihr Unwohlsein (S. 28). Auch romantische Begegnungen lehnt sie eher ab, da „die Klienten oft keine konkreten Anweisungen gaben“ (S. 28) – doch bei Gil macht sie eine Ausnahme.

Sie soll seine Ex-Partnerin Emma verkörpern, die die Siedlung verlassen hat – ein sicheres Todesurteil. Die Beziehung zwischen Gil und Emma war toxisch, Manipulation und Wutausbrüche dominierten. Es kommt, wie es kommen muss: Die Heldin gerät in eine zerstörerische Dynamik, die in bester Psychothriller-Manier mit Ambivalenzen spielt: Sind gewisse Begebenheiten Zufall? Wer manipuliert wen? Nicht nur persönliche Grenzen werden überschritten, sondern auch die maximale Dauer einer Begegnung – Geschäftliches und Privates verschwimmen.

Dem gegenüber steht die Beziehung zu Juri, der schon im Prolog eine Rolle spielt. Trotz des Verbots, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen (S. 22), arbeitet er im Naturkundemuseum – einer der letzten geduldeten Orte der Erinnerung. Diese Beziehung führt zu berührenden Sätzen wie: „Ich wollte zu Juri fahren, mich zu ihm ins Bett legen und aus seinen Gliedmaßen eine Klammer bauen, die mich zusammenhalten würde, im besten Fall für immer.“ (S. 102) Sie fragt sich, „was dieser viel zu gute Bursche eigentlich an [ihr findet]“ (S. 106) – und gesteht sich ihr eigenes Glück kaum zu. Er vergleicht ihre „Begegnungen“ mit Mimikry aus der Tierwelt: „Es gibt Spinnen, die sich, um nicht gefressen zu werden, äußerlich an Ameisen anpassen, weil gewisse Fressfeinde von Spinnen kein Interesse an Ameisen haben“ (S. 104). Spätestens hier stellt sich die Frage: Wer sind die Fressfeinde? Und vor allem: Wofür steht dieses Bild?

Eine Rückblende liefert bereits einige Seiten zuvor Antworten. Schmerzhaft und eindringlich wird erzählt, dass die Protagonistin von einer Familie aufgenommen wurde, um eine verschollene Tochter zu ersetzen. Der Bruder vergewaltigte sie. Die „Begegnungen“ können demnach auch als Versuch gelesen werden, ihr Trauma zu bewältigen: Wenn sie nicht sie selbst ist, kann ihr keine Gewalt angetan werden. Im Laufe der Erzählung nimmt „die Gewalt in der Siedlung […] zu“ (S. 81). Das Ende wirkt traumartig: Die Realität löst sich auf, Menschen beginnen zu schweben, die Siedlung zerfällt. Da bereits zuvor Traumszenen in die Erzählung eingeflochten wurden, bleibt offen: Ist das alles ein Traum, aus dem sie nicht aufwacht?

Es liegt nahe, den Einfluss der Pandemie auf den Roman anzunehmen: Zwischen den Siedlungen wird kontaktlos getauscht, und „das Spazieren im Wald, das die meisten Siedlungsbewohner so liebten“ (S. 24), reizt die Protagonistin nicht. Kontakt – Erstkontakt, wiederholter Kontakt, Grenzen und ihre Überschreitung – ist ein zentrales Thema des Romans.

Die Stärken des Romans liegen in seinen Prämissen und der emotionalen Tiefe der Rückblende. Die Sprache ist klar, präzise, schnörkellos; die Kapitel sind kurz und gut lesbar. Die dystopischen Bilder, die er zeichnet, verdeutlichen, was eine patriarchale Gesellschaft Frauen und anderen marginalisierten Gruppen antut. Allerdings bleibt das Setting – so stimmungsvoll es gestaltet ist – letztlich für die Erzählung entbehrlich. Die Geschichte könnte überall spielen – was beängstigend realistisch, aber auch etwas beliebig wirkt. Dennoch: Wer Interesse an Dystopien und ihrer zeitgenössischen Verarbeitung hat, findet hier eine kluge und berührende Variation klassischer Motive.

 

David Hoffmann (aka dada hoffi), geboren 1985, wuchs in Österreich und Ungarn auf. Master der Philosophie an der Universität Wien, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Lebt als Schriftsteller, Sachbuch-Lektor und Performer in Wien. Produktion eigener Kurzhörstücke. 2022 exil-lyrikpreis. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV). Texter und Falsettsänger der Literaturpunkband Smashed To Pieces. Seit 2014 Veröffentlichungen in Magazinen und Anthologien. Übersetzungen aus dem Ungarischen. Sein Lyrikdebüt einüben ins aussterben erschien 2025 in der Wiener editon exil.

Amira Ben Saoud Schweben
Roman.
Wien: Zsolnay Verlag, 2025.
192 Seiten, Hardcover.
ISBN 978-3-552-07520-7.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 19.05.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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