Denn beide Teile des Buches – der erste, im klassischeren Sinne literarisch, ja erzählend gehaltene und der zweite, essayistische – folgen in ihren Textbewegungen einer unbestimmten Suche nach etwas, das einem Halt geben mag, den Impuls, weiterzumachen, „Lebendigkeit zu bewahren“ (S. 131), wie es einmal heißt, angesichts einer Fülle an Widrigkeiten, die ein Menschenleben bereithält. Mal erscheint es in den Texten als Hoffnung, dann als Wahrheit, als „das Wunderbare“, als Präsenz und nicht zuletzt auch als Gott – die Texte bleiben ganz ohne Scheu vor dem Pathos und der Schwere, die in diesen Begriffen liegt, und stellen sich damit dezidiert in eine Tradition von Texten, die Winkler in ihren Essays als „europäisch“ bezeichnet und im entsprechenden zweiten Buchteil auch kunstvoll ausdeutet: Märchen, spirituelle Schriften, große Klassiker, Gleichnisse, die allesamt „antwortend erzählen […], was die großen Worte den Menschen tatsächlich zumuten und zutrauen.“
Es steckt also ein kühnes Unterfangen hinter diesem Buch, das nicht weniger versucht, als am Beispiel der eigenen Literatur das Verhältnis von Kunst und Welt auszuloten. Und damit wieder zurück zum Anfang und zu Kleist. Denn mit folgendem Zitatschnipsel beginnt der Text Niemand an der Tür, der erste im Band:
„Wo ist der Platz, den man jetzt in der Welt einzunehmen sich bestreben könnte, im Augenblicke, wo alles seinen Platz in verwirrter Bewegung verwechselt?“
Auch diese Frage nach der eigenen Positionierung als schreibende Person zieht sich durch den gesamten Band – mal mehr mal weniger unterschwellig – und bestimmt, wie könnte es anders sein, vor allem den Text, der hier den Auftakt macht. Als Präludium schildert er selbst ein Vorspiel: Eine Person tritt vor einen Vorhang, auf eine Bühne, und beginnt zu erzählen, dabei ist unklar, ob das, was sich hier eigentlich ereignen soll – das Stück, die Vorstellung, das Buch? –, damit seinen Anfang findet oder ob das Wesentliche erst später beginnt. Und auch die Erzählung dieser „Figur“, wie es heißt, gibt nicht so recht Aufschluss darüber, weil sie weniger erzählt als beschreibt – Erfahrungen und Beobachtungen allesamt flüchtig und zart: eine Lampe, die lodert, ein Tisch voller Blätter und die Erinnerung an „Schritte, die im Treppenhaus verhallten“. Dabei wartet doch ein voller Saal, ein nicht näher bestimmtes Gegenüber versucht, mit Tabellen und jeder Menge Zahlen die Leistung der Kunst zu quantifizieren, und irgendwo klopft es auch noch an einer Tür, aber niemand da, der sie öffnet.
Damit ist das literarische Programm gesetzt, denn wie Winkler sich hier einer Ökonomie des Erzählens verweigert, vielmehr traumwandlerisch und assoziativ erzählt, wie sie das Hintergründige in den Vordergrund schiebt und damit die fest etablierten Objekte unserer Aufmerksamkeit ganz grundlegend hinterfragt, positioniert sie sich als Schreibende auch selbst – dort, wo dieser Fokus nicht liegt, am vermeintlichen Rand unserer Aufmerksamkeit, in flüchtigen Momenten und punktuellen Beobachtungen.
Dass eine solche Positionierung sich paradoxerweise erst aus einer fortwährenden Bewegung ergeben kann, macht sie in den folgenden Texten klar, denn die Ich-Figuren, die sie allesamt durchwandern, sind eben Reisende, Spazierende, Suchende: „Bin ich nicht immerhin auf einem Weg, längst schon“ (S. 18), „Kein Zweifel ich reise“ (S. 23) „Gehen werde ich, gehen, gehen, gehen“ (24), „Wie wunderbar war mein Weg!“ (S. 53) „Kaum eine Landschaft hier, die es nicht wert wäre, durchstreift zu werden.“ (S. 73) Die anfängliche Frage wird also vordergründig weniger politisch als phänomenologisch beantwortet und damit vielleicht über einen Umweg – Vorder- und Hintergrund wechseln wieder den Platz – letztlich doch politisch?
In den darauffolgenden zehn erzählenden Texten beschreibt Winkler jedenfalls eine kleine Schule der Aufmerksamkeit – ihre Figuren durchstreifen Wohnungen, Straßen, Städte, aber vornehmlich Landschaften, die, wie der spät im Buch positionierten Text Was der Augenblick vermag verrät, analog zu Texten und Büchern zu verstehen sind: „Von dort sind mir Antworten entgegengekommen, aus Texten, die ich wieder und wieder gelesen habe, wie jemand, der einen bestimmten Landstrich wieder und wieder durchstreift.“ Texte werden so zur Landschaft, aber auch Landschaften zu Texten, in denen man lesen kann, aus denen man Poesie gewinnt. Und derer finden diese Figuren allerhand: Etwa wenn die Ich-Figur in Stille Post keine medial vermittelte Wirklichkeit, keine Bildschirme nötig hat, weil sie vor einem „Tulpenbaum steh[t], auf dem eine einzige Tulpe blüht“ (S. 27); wenn in Rede im Wind „Spaziergänger den Gesang der Vögel unterscheiden lernen“ (S. 47), oder die Erzählinstanz in Aus dem Abseits den Himmel hinunter gleich in den Gesang eines Vogels einstimmt „er aus Leibeskräften, ich dafür umso leiser, aber ausdauernd den ganzen Feldweg entlang“ (S. 70).
So beschwört Winkler vor allem anhand flüchtiger Natureindrücke und sich daraus speisender Imaginationskraft eine Gegenerfahrung zum Leben in einer Gegenwart, die ihre Figuren fast vergessen lässt, „wofür es sich lohnt, müde zu werden.“ (S. 35) Daraus ergibt sich eine Poetik der (Wieder)Verzauberung, die in der genauen Lektüre von Texten wie der alltäglichen Weltwahrnehmung nach dem Wundersamen sucht, das Winkler vor allem in Märchen festmacht.
Für dieses literarische Gegenprogramm findet Winkler aber leider selten so einnehmende Konstellationen und Bilder wie in der allerersten Erzählung, die als Text im Text kunstvoll Wahrnehmungsebenen und Aufmerksamkeitshierarchien durcheinanderbringt – es dominieren die bereits erwähnten Naturbetrachtungen, die sich meist zu kontemplativen Selbstreflexionen ausbreiten und nur selten die im Text hie und da motivisch aufgegriffenen unbegangenen Wege beschreiten. So erscheint es nicht erst seit Siegfried Kracauers Essay zur Errettung der äußeren Wirklichkeit als einigermaßen vordergründig die poetische Aufladung der Welt im Rascheln von Blättern im Wind (vgl. etwa S. 14, 22, 54) zu finden.
Und auch wenn Winkler in ihren Essays im zweiten Teil einnehmende und vor allem originelle Zugänge zu bekannten Märchen, Texten von Čechov und Tolstoi und sogar Bibelstellen findet, bleibt die Gegenwart, an der sie sich damit abarbeitet, eigenartig unterdefiniert bzw. oberflächlich umschrieben. Dass sie mit Digitalisierung zu tun haben könnte, wird nach und nach klar, wenn von Kanälen die Rede ist, die Einfluss darauf nehmen wollen, was die Figuren hören (vgl. S. 19), oder wenn an etlichen Stellen „Handtelefone“ den Blick auf das Wesentliche verstellen (etwa S. 27 oder S. 55).
Dass sich auch Schlagwörter wie Globalisierung oder Kapitalismus in die Kritik miteinbeziehen lassen, ergibt sich fast von allein, aber über die Beschaffenheit und auch die gerade phänomenologischen (Un)Tiefen einer solchen Gegenwart erfährt man wenig. Die Impulse hinter der Kritik sind punktuell nachvollziehbar, die Kritik selbst bleibt aber allzu oft oberflächlich, weil das, woran sich die Texte abarbeiten, meist nur negative Projektionsfläche bleibt, vor der Figuren in Wahrnehmungs-Hermeneutik und Kontemplation flüchten können. Winkler bleibt damit aber ihrem grundlegenden Programm treu, denn die vordergründige Ausdeutung der anfänglichen Frage, sie auf konkrete, tagespolitische Situationen anzuwenden und in diesem Kontext zu diskutieren, verweigert sie. Der darin liegende Anachronismus ist auch durchaus gewollt: „Verdankt sich nicht das, was das Leben lebenswert macht, sehr häufig unzeitgemäßen Gedanken und Handlungen […]?“ (S. 141)
Für die Texte bedeutet das, dass sie sich jeder Tagesaktualität verweigern, auch wenn hie und da (einigermaßen verklausulierte) Verweise auf österreichische Politik oder die Corona-Zeit aufblitzen, verlangen sie – wie die in den Essays interpretierten Texte – nach einer fast überzeitlichen Autonomie von all dem. Dass sie sich damit einer breiteren Kontextualisierung verwehren in dem, was man als Diskurs der Gegenwart bezeichnen könnte, kann ebenso irritieren, wie das anfängliche Zitat ohne Verweis auf den dezidiert politischen Schriftsteller Kleist oder eine den Texten inhärente Hinwendung zum Essenzialismus und einer literarisch beschworenen Eigentlichkeit. Denn auch wenn Winkler an einer Stelle betont, dass ihr ja nur die eigene Perspektive bleibe, sie nur von sich aus schreiben könne, strecken sich die Texte, in ihrer Gesamtheit gelesen, immer wieder nach einer allgemeinen Gültigkeit, die nicht nur wegen der drängenden Spezifik unserer Gegenwart misstrauisch macht. So landen die Ausführungen der Figuren und auch der Essays immer wieder bei Absolutem: etwa beim „wirkliche[n], richtige[n], wirkliche[n] Leben“ (S. 36) oder dem „Sinn dafür, wie die Dinge wirklich sind“ (S. 138).
Dass die Texte teilweise anlassbezogen entstanden und auch schon vorab andernorts erschienen sind, sie also nicht von Grund auf in dieser Konstellation gedacht waren, fällt dabei in keinster Weise auf, vielmehr wirkt der Band motivisch, thematisch und auch in seiner formalen Dualität äußerst rund und in sich geschlossen. Winkler bleibt in ihrer Programmatik extrem konsequent und zeugt in ihren kunstvoll verzweigten Textanalysen nebenbei auch von einer stupenden Belesenheit. So bleibt der Leseeindruck dieser insgesamt zwanzig Texte, die sich hier als komplex verzweigte Einheit präsentieren, letztlich zwiespältig.
Es sind Texte, die immer wieder von einer poetischen Qualität und Schönheit sind, die Gedanken beschreiben, denen man oft zustimmen und noch öfters widersprechen will; es sind Texte, die gerade deshalb schwer zu rezensieren sind, weil man sie vielmehr diskutieren will, in einen Kontext stellen, den sie selbst weitgehend verweigern. Ja, es sind eigensinnige Texte, es ist ein eigensinniges Buch, in einer Zeit, in der man sich aber doch fragen kann, wie viel Eigensinn es eigentlich gerade braucht.
David Wimmer-Wallbrecher, geb 1993 in Tamsweg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Graz und Bristol. Abschluss 2019 mit einer Master-Arbeit zu Gerhard Roth. Wiss. Mitarbeiter am Franz-Nabl-Institut in Graz. Arbeitet an einer Dissertation zum Werk von Clemens J. Setz. Kulturschaffender in unterschiedlichen Konstellationen (Film, Literatur, Theater). Mitglied des Autor:innenkollektivs plattform. Letzte Publikationen: Glitches, Bots und Strahlenkatzen. Gegenwart bei Clemens Setz (Hg. mit Klaus Kastberger, Sonderzahl 2022), Gerhard Roth. Archen des Schreibens (Hg. mit Daniela Bartens, Sonderzahl 2025)