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Löwen in der Einöde

Daniel Wisser

// Rezension von Alexander Peer

Konzise Verflüchtigung

Daniel Wissers minimale, semantisch-phonetische Variationen und Interventionen können all jene lesen, die auf seinen social-media-accounts mit ihm verbunden sind. Manchmal leisten diese Sprachexperimente eine erhellende Erkenntnis, manchmal erzielen sie den ersehnten anarchischen Überschuss. Die kleine Form, die Großes ausdrückt, ist oft auch ein Kern seiner komplexeren Prosaarbeiten.

In seinem im März 2017 erschienen Roman Löwen in der Einöde verdichtet Wisser das Porträt seiner Protagonisten in knappen Be- und Zuschreibungen. Wenige Zeilen genügen, um etwa die Beziehung von Michael und Gudrun zu vermessen und gewissermaßen deren Ende zu skizzieren. „Sie hasst die meisten Geschichten, die er erzählt, weil er sie so oft erzählt. Von diesem Astronauten hat er noch nie gesprochen. Plötzlich, an diesem ersten Januar, kommt Michael Gudrun wie ein Fremder vor.“ (S. 17)

Dieser Astronaut ist tatsächlich ein Kosmonaut und heißt Wladimir Wassiljewitsch Kowaljonok. Das Cover des Buchs zeigt den Anzug eines Astronauten etwas verloren in einem nicht nur leeren, sondern geradezu verlassenen Zimmer. Wisser arrangiert mit sparsamen und klug gesetzten Verweisen eine exemplarische Biografie eines Österreichers, der die 70er Jahre als Kind, die 80er Jahre als Jugendlicher und die gegenwärtige Zeit als Beziehungsenttäuschter zu bewältigen sucht; beruflich verharrt er in einer sehr soliden Stagnation. Für berufliche Marginalisierung scheint Wisser ein Faible zu haben, zeichnet sich doch schon die Hauptfigur in seinem Roman Ein weißer Elefant durch eine Art Auflösung in der Arbeitswelt aus, die sukzessive mit einer Auflösung im Privaten korreliert. Zurück zu den Löwen in der Einöde, die im übrigen gar nicht metaphorisch sind, weder die Löwen noch der Ortsteil ‚Einöde‘: Um den zentralen Charakter Michael Braun gruppiert sich ein schmales, aber gut akzentuiertes Ensemble. Die für das österreichische Fußballnationalteam geradezu traumatisierend erfolgreiche Fußball-WM 1978 findet ebenso einen Platz im schmalen Roman wie markante Medienereignisse und politische Meilensteine, beispielsweise die Abstimmung über die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf, die Entführung des Biermoguls Alfred Heineken, der Einsturz der Reichsbrücke, der durch einen Sturz in einen Brunnen verunglückte italienische Junge Alfredo Rampi oder der in einer Gefängniszelle 18 Tage lang vergessene Andreas Mihavecz, der nur dank der Kondensflüssigkeit an den Wänden überlebte; selbst das ist unglaubwürdig genug. Anhand dieser Beispiele entsteht eine biografische Klammer für die Hauptperson und eine Verortung des Gedächtnisses, die auf etwas Kollektives verweist.

Ein einziges Mal gelingt dieser Hauptperson des Romans ein Furor, ein Ausbruch. Welcher Art dieser Ausbruch ist, bleibt den Lesenden des Buchs vorbehalten. In diesem Moment wird aus dem Braun geradezu ein Rot, so entschlossen, so beharrlich agiert er da. Es ist eine spezifische Eigenart, dass sogar das Kind nicht bei seinem Vornamen genannt wird, sondern zumeist als Braun durch diese, seine Geschichte geht. So, als wäre er nicht einmal bei sich selbst heimisch. So, als wäre sein Nachname programmatisch. Austauschbar, weil unscheinbar. Das klingt nach einem mühsamen Stoff. Allein, das Buch weiß vom Anfang bis zum Ende auf wunderbar bittere Weise zu unterhalten. Die Ironie bezieht der Text aus dem Kontrast zwischen dramatischem Ereignis und lakonischer Schilderung oder aus dem gekonnten Inszenieren von Missverständnissen. Eine zweite qualitative Raffinesse ist die nicht-lineare Erzählweise. Sie ist nicht nur achronologisch, weil sie retrospektiv ist, sondern weil sich die Zeitebenen immer wieder mischen. Das irritiert am Anfang etwas, bis man dieses Einander Durchdringen der Zeitebenen diagnostiziert, sich daran erfreut und auch eine Entwirrung des biografischen Knäuels zu leisten imstande ist. Man erfreut sich auch deshalb an dieser Technik des Verwebens, weil sie einprägsam anschaulich macht, wie sich Gedächtnisleistungen konstituieren und wie kollektives und subjektives Erinnern ineinandergreifen. Diese Erzählweise stört auch das Bedürfnis nach Interpretation empfindlich. Ganz zum Schluss wird diese Absicht noch betont, wenn die Assistentin von Michael Braun, Güler, darauf verweist: „George Orwell dachte 1948, dass 1984 in einer fernen Zukunft liegt. Im Moment archivieren wir die Akten des Jahres 1984. Und wenn wir fertig sind, wird 1984 schon vergessen sein.“ So einfach kann das Verschwinden bezeichnet werden, ‚Sein und Zeit‘ en miniature. Dabei gibt es einige ausgesprochen klare und emphatische Momente, etwa wenn der 13jährige eine Initiation mit seiner Latein-Nachhilfelehrerin Alies erlebt, und wenn deren plötzliches Verschwinden eine Leere hinterlässt, die Braun bis in seine Gegenwart als Mittvierziger nicht zu füllen weiß. In diesen Passagen wird einem schmerzlich bewusst, dass ein Braun in jedem von uns haust. Quod erat demonstrandum.

Löwen in der Einöde.
Roman.
Salzburg: Jung & Jung, 2017.
126 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99027-095-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 15.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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