#Roman

Halbnah

Anna Maria Stadler

// Rezension von Holger Englerth

Mit Halbnah legt Anna Maria Stadler schon im Titel ihres zweiten Romans die Perspektive fest: Wirklich nah kommen die Lesenden ihren Frauengestalten nicht. Sollen sie auch gar nicht.

Obwohl sich ausschnitthaft biographische Details der drei Frauen, die auf unterschiedlichen Wegen durch eine nicht näher definierte Stadt unterwegs sind, festmachen lassen und auch Begegnungen bzw. Beziehungen zwischen ihnen geschehen, bleibt der fragmentierte Blick das definierende Merkmal des Romans, der in viele kurze Kapitel (nummeriert von 1002 bis 1084) unterteilt ist.

Stadler macht Räume auf und entwickelt eine eigenartige, einzigartige Geographie. Alle Versuche, ihren Text definitiv zu verorten, laufen ins Leere. Zwar drängen sich Ähnlichkeiten zu Salzburg auf, mit gleichem Recht könnte der Handlungsort aber auch ein Parisamsterdamgrazberlinwien sein, jedenfalls eine europäische Stadt. Das führt zu einem hohen Wiedererkennungsfaktor für alle, die selbst aufmerksam im urbanen Raum unterwegs ist.

Es sind Mira, Kata und Sarah, die halbnah begleitet werden. Mira sucht Freiheit, Kata, die in der Familie von Mira Pflegekind war, denkt an ihre wohnungslose Mutter und Sarah löst sich aus einer Beziehung – doch mit diesen kurzen Sätzen ist einerseits zu wenig, andererseits auch schon zu viel gesagt. Der Roman versucht sich an einer viel freieren Form des Erzählens, in der der Fokus sich immer auch aufs Kleine, auf dem Moment legt und ihm eine Wichtigkeit zuweist, die sogar ihren Figuren entgehen mag:

„Wenn wir die Körper einmal auf eine Weise modifiziert haben werden, dass Langsamkeit das Schlafen ersetzt, hört Kata jemanden sagen. Sie wünscht sich Langsamkeit. Jede Bewegung vergeht, bevor sie diese noch feststellen kann“ (S. 57).

Es sind nicht die touristischen Höhepunkte der Stadt, viel mehr sind es deren alltägliche Teile, auch die Regionen an den Rändern im Mittelpunkt. Zum Beispiel die Lagerfläche eines Betriebes, die Erinnerungen weckt:

Sperrmüll, Steinhaufen und Erde türmten sich dort, geschichtetes Holz. Eine Lagerfläche, auf der sie abends manchmal spielten […]. Sie überformten das Abgelagerte mit ihren Geschichten, indem es in ihrer Vorstellung zu Balkonen, Schiffen oder Behausungen wurde“ (S. 11).

Die distanzierte, klare Sprache des Romans steht in eigentümlichem Gegensatz zur Unsicherheit, die sich immer wieder breit macht. Dass eine Bewegung im städtischen Raum für Frauen auch mit Angst verbunden sein kann, wird an einigen Stellen klar. Eine der Frauen wird von einem Mann auf dem Moped mitgenommen:

„Kata klopft dem Mopedfahrer mehrmals auf die Schulter, bis er seinen Kopf halb zu ihr dreht. Can I get off?, ruft sie laut und bemerkt sein Zögern. Ob sie sicher ist, will er wissen, und sie nickt mit dem schweren Helm am Kopf. Ich wohne hier, sagt sie und zeigt vage in eine Richtung, von der Straße weg. Er lässt sie absteigen und nimmt den Helm entgegen. Erst jetzt fällt ihr auf, dass unter dem spiegelnden Helm fast nichts von seinem Gesicht zu erkennen ist.“ (S. 111)

Noch deutlicher wird die Angst an einer anderen, ähnlich beklemmenden Stelle deutlich:

„Sarah ist es gewohnt, bevor sie abends das Haus verlässt, den Rückweg durchzudenken. Zu überlegen, ob ein Stück davon am Park oder Fluss entlang verläuft, ob es Stellen gibt, an denen nachts niemand mehr ist. Die Abfahrtszeiten der Busse zu recherchieren, um nicht den letzten zu verpassen. Inzwischen hat sich Überdruss eingestellt. Wenn sie jetzt abends unterwegs ist, empfindet sie dabei Trotz. Die Notwendigkeit zur erhöhten Vorsicht ermüdet sie.“ (S. 145)

Obwohl also der Text auf Distanz bedacht ist, ist man doch in Sorge um die Figuren. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass immer wieder Geschehnisse passieren, die eine unklare Gefahrenlage erzeugen . Auf eine gewisse Weise liest sich Halbnah wie ein Prequel zu einem anderen österreichischen Roman der letzten Jahre, der eine ähnliche Ungreifbarkeit erzeugen konnte. Nur ist in Karin Peschkas Autolyse Wien die Katastrophe bereits geschehen, bei Stadler ist der Weltuntergang dagegen höchstens latent. Die Lage ist zweifellos bedrohlich, noch ist nicht wirklich etwas geschehen, doch das wird wohl nicht so bleiben.
Es ist ein schmales und dennoch forderndes Werk, das Stadler vorlegt: Kein leichtes Lesen, aber ein lohnendes.


Holger Englerth
, Studium der Geschichte und Deutschen Philologie an der Universität Wien, Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger. Diplomarbeit über Asketische Praktiken von Frauen vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projekte Literaturzeitschriften in Österreich 1945–1990, Literature on the Move, Tagebücher Andreas Okopenko und zur Österreichischen Gesellschaft für Literatur.

Anna Maria Stadler Halbnah
Roman.
Salzburg: Jung und Jung, 2024.
176 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN: 978-3-99027-404-0.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Anna Maria Stadler

Rezension vom 28.04.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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