#Roman

Der verlorene Traum

Mela Hartwig

// Rezension von Karin S. Wozonig

Sie versteht besser zu träumen als zu leben und gefährdet damit ihre Ehe. Mela Hartwig erzählt von der Verwirrung der Gefühle einer Frau.

„Flüchtiger als der Wind ist die Zeit, du kannst sie nicht aufhalten, keiner kann es“, sagt sich Barbara, die Protagonistin, am Ende dieses Romans formelhaft vor. „Noch blühen Erinnerungen in deinem Herzen, ein Widerschein vergangener Jahre, und schon sind alle Hoffnungen, die du so zärtlich hegtest, die Vorahnungen kommender Jahre, welk“ (S. 223), erkennt sie, nachdem das Traumabenteuer, von dem dieses Buch erzählt, ausgeträumt ist. Mela Hartwig, 1893 in Wien geboren, wurde mit expressionistischen Erzählungen und dem Roman Das Weib ist ein Nichts (Zsolnay, 1929) bekannt.

Der verlorene Traum entstand wahrscheinlich 1943/44 im Exil in London, wurde vom Droschl-Verlag aus dem Nachlass der Autorin herausgegeben und versetzt uns in eine nervöse Welt von gestern. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob es zu diesem Manuskript Vorstufen gibt und ob Hartwig versucht hat, den Roman zu veröffentlichen. Ein Vor- oder Nachwort zur Kontextualisierung wäre hier eigentlich zu erwarten gewesen, zumal die anderen verdienstvollen Ausgaben, die der Droschl-Verlag besorgt hat, Hartwigs literarische Qualitäten wieder bekannt gemacht haben.

In Der verlorene Traum gelingt ihr konsequentes Erzählen aus einer Perspektive, der Witz und die ironische Zuspitzung der anderen Werke aber fehlen fast ganz; Wiederholungen und Konstruktionsfehler lassen vermuten, dass es sich um die spätere Überarbeitung eines Romanentwurfs handelt. Das muss aber Spekulation bleiben, denn der Verlag gibt der Leserin keine hilfreichen Hinweise zu dieser nervenaufreibenden Geschichte einer gutbürgerlichen Akademikerin in der Lebenskrise an die Hand.

Barbara ist seit ein paar Jahren mit einem liebenswürdigen Mann verheiratet, einem Wissenschaftler, in dessen Labor sie arbeitet. Bei einem gemeinsamen Theaterbesuch verliebt sie sich in einen Unbekannten, genau gesagt in seine hellen Augen, „vielleicht grau, vielleicht grün, unergründliche Augen, von denen eine tödliche Kälte ausging, oder vielleicht nur ein tödlicher Hochmut, oder vielleicht nur eine tödliche Gleichgültigkeit.“ (S. 6) Sie gibt ihm, den sie zu ihrer Freude im Gespräch mit Bekannten sieht – zukünftige persönliche Begegnung also nicht ausgeschlossen –, den Namen Axel – der ihr dann wohl doch nicht verführerisch genug klingt, denn gleich darauf fällt das Objekt ihrer Begierde wieder in die Anonymität zurück. Was folgt, ist das Protokoll eines Selbstverlusts im Tagtraum, der das bisher gelebte Leben, vor allem die Ehe und die Arbeit der Protagonistin, von Grund auf in Frage stellt. Nichts stimmt mehr, alles außerhalb der phantastischen Besessenheit ist falsch.

Mela Hartwig war laut Klappentext um die Fünfzig, als dieser Roman entstand. Im Ton und im Setting ist er aber wie aus der Zeit gefallen, ein Anklang an Zweig, ein Hauch von Freud, die Protagonistin zeigte in ihrem Studium nicht von ungefähr „ein brennendes Interesse für nervöse Störungen und psychiatrische Probleme“ (S. 20), die weibliche Hysterie geistert durch diesen Text. Da verrennt sich eine Frau binnen Tagen in eine Scheinwelt – und das sehenden Auges.

Ihr Mann Martin ist vernünftig, liebt seine Arbeit, schätzt seine Frau als Gefährtin, die ihn in seinem Labor unterstützt. Barbara ist krankhaft eifersüchtig und hat Martin eigentlich nur geheiratet, damit er ihr gehört. Seine Ungeselligkeit ist ihr sehr recht, denn sie erträgt es nicht, wenn er sich mit einer anderen Frau unterhält. In ihrer Besessenheit vom schönen Unbekannten, den ihr ihre Phantasie vor Augen stellt, entliebt sich Barbara aber gründlich, wird kritisch gegenüber den Fehlern ihres Mannes und fühlt sich schlagartig – nämlich mit dem Schlag des Verliebens – von Martin vernachlässigt und nicht wertgeschätzt.

Eine Woche nach dem schicksalshaften Augen-Blick im Theater macht Barbara ihrem Mann den Vorwurf, dass er so ist, wie er ist, dass er seine Arbeit über alles, auch über sie stellt. Er lebe sein Leben und sie habe sich dem untergeordnet und gefügt, wirft sie ihm vor, und ab jetzt wolle sie ihre Unabhängigkeit. Martin weiß offensichtlich nicht, wie ihm geschieht, und die Protagonistin, deren Perspektive die einzige in dem Roman ist, wird sich bewusst, dass sie gerade „den Inhalt ihres Lebens verschüttet hatte, ohne zu bedenken, dass sie nicht wusste, womit sie es wieder füllen sollte“. (S. 43)

Die Lösung für das Problem ist originell: Träume von einer erfüllten Liebesbeziehung mit „Axel“. Barbara legt sich für einen Tag ins Bett, die Szene, in der sie sich den ersten Kuss erträumt, ist Kitsch: Sie trägt ein wunderbares Kleid, begegnet dem schönen, anmutigen Geliebten an einem heißen Sommertag auf einer idyllischen, ländlichen Straße, sie erreichen gemeinsam eine Anhöhe mit Terrasse, Barbara lehnt an der Balustrade und ihr Traummann im doppelten Sinn legt „den Arm um die Willenlose“, er zieht die „Erlöschende“ an sich, „sein Mund berührte ihren Mund“ (S. 59). Weiter geht die Protagonistin in diesem Traum nicht; und an anderer Stelle, an der es in Barbaras Traumwelt wahrscheinlich wirklich zur Sache gegangen ist, fehlt im Manuskript ein Blatt. Ob die Autorin hier nachträglich Selbstzensur geübt hat, muss offenbleiben.

Barbara will den schönen Unbekannten unbedingt treffen. Was folgt, sind Manöver, bei denen Barbara ihren Mann eifersüchtig macht und umgekehrt – wobei es bei ihr dazu nicht viel braucht. Das traurige Schauspiel entfaltet sich en détail vor unseren Augen , zäh, in kreisenden Bewegungen und auf der Stelle tretend, Resultat der psychischen Ausnahmesituation, in der sich die Protagonistin seit der Begegnung mit dem schönen Unbekannten befindet. Minutiös schildert Hartwig, wie sich „das klaffende Schweigen“ der Ehepartner zu einem „unüberbrückbaren Abgrund“ (S. 123) entwickelt und wir rätseln mit der Protagonistin über ihre inneren Vorgänge. Der ausgeprägte Wankelmut der Erzählerin – ganz ohne Zutun von außen durchlebt sie praktisch im Minutentakt emotionale Hochschaubahnfahrten – macht nicht nur Barbaras Freundin Therese das Verständnis schwer. Sie wird zur Vertrauten, denn sie kennt den Traummann, findet ihn charmant, ist aber weit davon entfernt, Barbaras Begeisterung zu teilen.

Ein Atelierfest, bei dem „Axel“ auftauchen könnte, schwebt wie das Schwert des Damokles über der Ehe. Und saust herab. Verhängnisvoll ist dieses Fest aber nicht, weil die Erzählerin ihrer Phantasiegestalt in der Wirklichkeit begegnet, sondern weil sich mittlerweile auch Martin nach Abwechslung aus dem anstrengenden Ehealltag mit seiner besessenen Frau umschaut.

Als Martin und der Unbekannte dann aufeinandertreffen, entzaubert der kühle Wissenschaftler den eitlen Sänger – zumindest in den Augen der Leserin, die Protagonistin bleibt hingegen noch einige Zeit blind vor Liebe. Die rhetorische Selbstmystifikation des Künstlers und seine anspielungsreiche Hohlheit sind fein beobachtet und ergeben vergnüglich zu lesende erzählerische Kabinettstücke. Wie die Geschichte ausgeht, wird hier nicht verraten.

 

Karin S. Wozonig, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik/Amerikanistik und Germanistik an der Universität Wien und UCLA (USA). Publikationen zur deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und zur Chaostheorie. Zuletzt veröffentlichte Karin S. Wozonig in der Naturkunden-Reihe bei Matthes & Seitz Ratten. Ein Porträt (2024) und im Residenz Verlag die Biografie Betty Paoli – Dichterin und Journalistin (2024) sowie unter dem Titel Ich bin nicht von der Zeitlichkeit eine Auswahl an Texten von Betty Paoli. www.karin-schreibt.org

Mela Hartwig Der verlorene Traum
Roman.
Graz: Droschl, 2025.
224 Seiten, gebunden.
ISBN: 9783990591826

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 04.06.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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