Beobachten und festhalten
„Unsystematische gribouillis“ – Gekritzel ohne Ordnung –, so nennt Alexander Kluy seine geistig gewandte wie enigmatisch anmutende Zeilen-, Wörter-, Silben-, Buchstaben- und Zeichen-Sammlung gefundenen Sprachmaterials, in die eine Vielzahl von Zitaten eingeflochten ist. Diese wurden vorrangig aus der Literatur- und Philosophiegeschichte zusammengetragen, bestehen aber auch aus so originellen Fundstücken wie den Fragmenten einer To-Do-Liste Leonardo da Vincis (entstanden circa anno 1490). Hier folgt der Maler und Bildhauer seiner eigenen Losung – und der Schriftsteller Alexander Kluy tut es ihm gleich: zu beobachten, festzuhalten, zu betrachten und zu hinterfragen. (Es sei hilfreich, ständig zu beobachten, zu notieren, zu erwägen, so da Vinci.) Und während sich das lyrische Ich in seinen Gedanken verliert, findet es, angeleitet von allen Bleistiften, zu diesen zurück: „Alle Bleistifte ausgerichtet! / Der Befehl: »Zerstreut Euch!«“ (S. 11)
In gewisser Weise ist Kluys Sammlung eine lyrisch-assoziative Lese- und Gedankenliste und -reise. Der Versuch, die (eigene) Sprache festzuhalten. „Fantaster / =ei[en]“ (S. 11), die am Ende des Tages über Flächen aus Papier gleiten. Im Titel des Buches lesen wir die gekrümmte Fläche – vielleicht ein Hinweis auf die Krümmung der Raumzeit? Als Hinweis auf das Überwinden der Zeit? Und „Wer siebt / den Sand der Zeit?“ (S. 52). Oder ein Hinweis auf die Ironie in der Resignation vor der Zeit? „»Wenn nichts kommt, kommt immer / Zeit.« }Henri Michaux{“ (S. 52)
Fluktuierend und lumineszierend
Wie zufällig auftretende Lichtblitze in Gestalt von Denkimpulsen, wie Gewächse aus Licht und Schatten huschen die Wörter und Zeilen, Vokale und Konsonanten über reflektierende Oberflächen – „auf diesen Seiten wechseln Teile sich ab, / spie / =gelnd / als hätten sie nahezu nichts bis eher wenig miteinander gemein“ (S. 7). Dabei werden sie immer wieder durchlässig und brüchig, um sich an anderen Stellen erneut zu verdichten, zur Leiblichkeit der Sprache zu finden, zum „tägliche[n] Eintrag. Was sich zutrug. Und was die Zeit forttrug“ (S. 75).
Die berühmte Leerstelle wird hier zum formalen Stilmittel, das Schriftbild ist durchbrochen; Einzüge, Einrückungen, Auslassungen, viel (Denk-)Raum zwischen den Zeilen. Bedenkzeit. Der Text als Ausdruck ver- und zerstreuter Gedankenfragmente, die eine Art inhomogenes Konglomerat der Ein- und Zufälle bilden, bevor alles und nie nichts wieder zerfällt.
Das Nichts schraffieren
Nichts in diesem Buch ist ein-deutig, nichts bleibt haften, selbst die kleinsten Worteinheiten drohen sich aufzulösen in der Zeit, lösen sich auf, „Den Vokal da abholen, wo ihn die Konsonanten / recht / =s / liegen gelassen haben“ (S. 74). Der gesamte Textkörper zerfällt, wie es jeder Körper einmal tun wird. Als simulierte er seinen eigenen Ver-Wesungs-Prozess, um sich an einer anderen Stelle wieder aus der Asche zu erheben, neu zu entstehen, ganz „Zauberendisch“. (S. 91) Es „[v]erkritzelt sich wirbelndes […] die Silbenhaftung“ einbüßend. (S. 12)
Nichts hat hier (nichts) miteinander zu tun, nichts lässt sich festmachen, nichts lässt sich ein-, zuordnen oder fassen. „Das Nichts“ soll „schraffiert“ werden (S. 22). – Doch die Schraffierung des vermeintlichen Nichts erweist sich als Paradoxon und legt nahe, dass dieses Nichts vielleicht gar nicht existiert – sondern nur die Schwere, die auf ihm lastet. So lässt sich dann auch besser darüber schreiben: „Warum eigentlich nicht ein Buch über nichts. Nicht über / Nichts. Nihilismus atmet die / Welt genug. Sondern / ein / =fach / nichts. Einfach schwer.“ (S. 28) Lesen wir die Einsamkeit in und zwischen den Zeilen? Eine Einsamkeit, „die auf / die Spitze / einer / Nadel passt“ (S. 46)? Oder auf die Spitze eines Bleistifts oder jene eines anderen Schreibgeräts? Eine Einsamkeit, die gar in Verbindung gebracht werden kann mit dem Medium Buch, das droht, verdrängt zu werden?
Die Lesbarkeit der Welt
Mehrmals finden wir neben zahlreichen anderen Bezügen (von Aristoteles über Emily Dickinson bis Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Estela Canto oder Mavis Gallant, um nur ein paar wenige zu nennen) intertextuelle Verweise auf den deutschen Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996), der bekanntlich ein Vielleser und Vielschreiber war, ein Buchmensch durch und durch. Für ihn stand das Buch jedoch schon lange in Konkurrenz zu einer veränderten Welt, die durch ihre Technisierung mehr und mehr neue Möglichkeiten der Erfahrbarkeit geschaffen hat, so festgehalten in seiner Die Lesbarkeit der Welt von 1981.
Diese Lektüre – mit der Möglichkeit, Welt lesbar zu machen – wirkt anregend. Möglicherweise will der oder die Lesende selbst zum Papier greifen – Haptik! –, den Stift zur Hand nehmen und den kopfeigenen Denkapparat in Gang setzen (lassen) von allem, was da von außen sowie von innen auf ihn (ein)wirkt, bevor „[d]as pochende Wort / ver / =schwin / =det im Bleistiftspitzer“ (S. 12). Ein kontemplatives Spiel mit dem Geist. Eine Hommage an zerstreutes „Kritzeln“, an die Sprache und an das Buch, „»Wir werden gebraucht!« rief das Lesezeichen dem Kapitalband zu“ (S. 28). Literarisch-philosophische Entropie!
Evelyn Bubich, geboren 1988 in Klagenfurt, studierte Komparatistik, Digital Media Publishing und Kommunikationsmanagement; Autorin, Lektorin, Literaturvermittlerin; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Tageszeitungen und Anthologien sowie im Freien Radio; Literatur-Performances und genreübergreifende Arbeiten; Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Podium, Vorstandsmitglied der IG Autorinnen Autoren; lebt in Wien. Homepage von Evelyn Bubich