Sehr geehrte Damen und Herren, werte Anwesende,

am 3. Oktober erhielt ich die freudige und überraschende Nachricht, daß ich im Namen der Erich-Fried-Gesellschaft und im Namen der wunderbaren und von mir sehr verehrten Monika Helfer den Erich-Fried-Preis 2023 zugesprochen bekomme. Ich bin noch immer so glücklich und empfinde es als eine große Ehre, diesen Preis von Ihnen entgegennehmen zu dürfen.
Zunächst hielt ich das Ganze für ein Versehen. Ein großes Versehen. Fried und ich?
Oh je. Ob das überhaupt gutgehen konnte?
Ich werde und kann hier jetzt nicht vor Ihnen den Fried-Kenner mimen. Mit Außnahme von ein paar Gedichten habe ich nichts von ihm gelesen. Die Wortspiele, die aphoristische Engführung, die oft zum Handeln animierende, auf eine politische Ansteckung hindeutende, poetische Didaktik, die sachlichen Pointen ließen mich seinerzeit seltsam leicht an Fried vorüberziehen. In meiner Jugendzeit fühlte ich mich ausschließlich zur hermetischen Dichtung hingezogen. Wahrscheinlich schreckten mich die Begriffe ab, die in Zusammenhang mit Erich Fried immer wieder aufloderten: politische Lyrik / engagierte Literatur. Aber hätte ich zu der Zeit diese Zeilen von Fried gelesen, hätte ich vielleicht auch sämtliche Vorurteile über Bord geworfen:

Die Kräfte/ sparen/ für das/ was wirklich/ zu tun ist// So wächst/ im stillen/ der Vorrat/ an unverbrauchter/ Verzweiflung.

Cioran hat die Verzweiflung einmal eine Form der negativen Begeisterung genannt. Was passiert mit der Verzweiflung, wenn ich sie nicht verbrauche. Wird dann auch der Vorrat an negativer Begeisterung größer und größer und hilft dabei, zu überleben?

1972 in Stralsund, ich war sieben Jahre alt, sagte mein Vater, komm, mein Junge, wir machen einen Spaziergang. Wir gingen am Knieperteich, am Theater und am Rathaus vorbei, bogen in die Badenstraße ab und öffneten die Tür einer Musikschule. Mein Vater meldete mich zum Geigenunterricht an. Ich wusste nicht, wofür das gut sein sollte. Mehr Zeit zum Geige-Üben, weniger Zeit, um mit meinen Freunden nach der Schule auf der Wiese vor dem Moorteich-Kindergarten Fußball zu spielen. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, beugte sich mein Vater oft in mein Gitterbett runter und sagte mir das Leuchtturmgedicht von Wolfgang Borchert auf, ob ich das nun hören wollte oder nicht. Geige spielen und Borchert hören. Ich möchte Leuchtturm sein.

Mit sechzehn Jahren etwa merkte ich, dass aus mir kein großer Geiger werden würde. Ich schrieb meine ersten Verse und spielte mit fünfzehn, sechzehn Jahren in einer Band in Stralsund. Wir nannten uns Tabula Rasa. Wir waren eingeladen, einen Lyrikabend des Stralsunder Dichters Uwe Lummitsch musikalisch zu begleiten. Das war vor etwa 40 Jahren. Von da an trafen wir uns jeden Mittwoch regelmäßig bei Lummitsch, im Behindertenwohnheim, in der Nähe vom Hafen, ein roter Backsteinbau, auf den Fluren riesige Schiebewagen mit gewechselter Bettwäsche, wir tranken Rotwein, hörten Kate Bush, Theodorakis und Pankow. Lummitsch las uns Gedichte von Vallejo, Ritsos, Eluard und anderen vor. Mich traf der Schlag. Auf eine derartige Sprache war ich nicht vorbereitet gewesen. Der Mittwoch wurde immer heiliger. Ich wollte, musste und durfte nur noch Dichter werden: ja. Kurz darauf zeigte ich ihm meine ersten eigenen Gedichte. Er war es auch, der mich ermutigte, niemals mehr damit aufzuhören. Ich war siebzehn.

Dann kämpfte ich so an die vier, fünf Jahre mit Celan, und um 1986 herum begann ich, die Gedichte zu schreiben, zu denen ich auch heute noch stehen kann. Lummi starb 1988 an den Folgen einer Alkoholentziehung. Er veröffentlichte nur einen Gedichtband, den ich immer bei mir trug, Mondlandung, erschienen 1987, vorn steht als Widmung drin: „für Thomas, den Dichter der Zukunft“. Ich glaubte ihm. Ich wusste, dass er Recht hatte, sonst hätte ich alles aus der Hand gelegt, alles.

Meine ersten beiden Lehrmeister am Anfang der achtziger Jahre waren Paul Celan und Georg Trakl. Ich schrieb am Tag mindestens fünf bis zehn Gedichte, Gedichte, die ich selber nicht verstand. Das hielt ich für die größte intellektuelle Leistung zu dieser Zeit.
Besonders Celans Komposita-Bildung hatte es mir angetan. Allerdings war so ein wunderbares Wort wie „Enzianvergessenheit“ von Friederike Mayröcker in meinen Gedichten nie dabei. Als meine Tochter geboren wurde und ich mit Windelwaschen, Brei kochen und ähnlichen Dingen beschäftigt war, nur die zwei Stunden am Tag zur Verfügung hatte, in denen sie schlief, veränderten sich meine Gedichte allmählich, waren nicht mehr so idiotisch hermetisch und so gedanklich belanglos. Als sie dann zeitig sprechen lernte, war es mit dem Zauber von Celan und Trakl erstmal vorbei. Auf einmal ging es mir um mehr Klarheit und sachliche Nüchternheit in Gedichten.

Als uns Lummi am Anfang der 80er Jahre Gedichte vorlas, passierten in mir merkwürdige Dinge, ich war dann meistens schon halb betrunken und hörte so etwas: „mit feuchtem Bleistift einen Garten zeichnen“ (Karl Krolow) oder: „sie denkt sich wieder etwas aus, bei dem sie die Hose anbehalten kann“ (Nicolas Born) oder: „und noch erschrickt unser Herz, wenn auf der Seite des Hauses ein Wagen zu hören ist“ (Sarah Kirsch), einige Worte wie diese hier von Stefan George lassen mich seitdem einfach nicht mehr zur Ruhe kommen, ich spüre diese tiefe Wahrheit in ihnen, diese Hölle, welche jede Unaufrichtigkeit nach sich zieht, jede noch so gut gemeinte, erbärmliche Lüge:

Ich lasse meine grosse traurigkeit
Dich falsch erraten um dich zu verschonen
Ich fühle hat die zeit uns kaum entzweit
So wirst du meinen traum nicht mehr bewohnen

So komisch das auch klingen mochte, aber wenn ich solche Gedichtzeilen vernahm, wusste ich, dass ich hierbleiben wollte, es gab hier keine Zäune im Wasser, keine Schiffskontrollen, die Schweinwerfer hielten die Ablegestrände sauber, Johanna Maria II, Yelda, Holsten Queen, keine Yachten, nur Spielzeugboote in den Farben der Begrenzungsbojen, ich wollte so gern Dichter werden und nie dieses Land verlassen.

1989 war meine Tochter Charlie drei Jahre alt. Ich schrieb gerade an meinem ersten Roman: Die Ernennung der Jugend zum Schlaf. Montags ging ich ab September zu den Friedensdemonstrationen. Immer Verbandszeug dabei. Ich kam mit meinem Roman nicht weiter. Ich konnte nicht beides, demonstrieren und schreiben. Dabei freute ich mich immer auf die Montage. Dann war ich beseelt und fühlte mich frei, wenn ich mit wildfremden Menschen durch die Straßen zog, auch wenn die Illusion von einem neuen Land kein Recht auf Zuversicht hatte.

Ich wollte Gedichte schreiben. Ich wollte allein sein. Aber das ging nun nicht mehr. Ich hatte Frau und Kind. Aber ich hatte Sehnsucht, verdammte Sehnsucht nach Gedichten. Alle hauten gerade über Ungarn ab, ich nicht. Aber nicht aus Trägheit, sondern weil ich Visionen hatte, Visionen vom Hierbleiben, Visionen eines linken, anbiederungsentkernten Landes mit stabilen Fabriken. Meine Gedichte wurden immer trostloser. Ohne sie hätte ich vermutlich weiter Pädagogik studiert. Ohne sie hätte ich mich auf der Stelle scheiden lassen. Ohne sie hätte ich mich totgesoffen. Ohne sie hätte ich mir überlegt, was solch ein Leben überhaupt wert sein sollte.

Der Zusammenbruch meines Landes hat mein Schreiben kaum berührt, weil meine hauptsächlichen Themen wie: Mann und Frau, Scham, Sehnsucht und Begehren davon unbeeindruckt blieben. Im Koran ist der Satz zu finden: „Vom langen Betrachten des Meeres kommt noch kein Gewinn.“ Ich beschrieb die DDR mal als ein „umzingeltes U, nur nach oben geöffnet“: hatte dabei aber völlig vergessen, dass natürlich gerade das Meer, die Ostsee, wenn ich vor ihr am Ufer stand, das Zeug dazu hatte, mir das Gefühl zu vermitteln, dass in dieser Richtung niemals Zäune auftauchen könnten oder extrem lange, aneinander gekettete, seitliche Schiffe, die Rümpfe dann natürlich bis runter, auf den Meeresboden. Ich wollte die DDR bis zum Ende nicht verlassen. Ich habe dort aus Langeweile angefangen, Liebesgedichte zu schreiben, Musik zu machen, Wein zu trinken, den Norden zu lieben: alles Dinge, die mir bis heute treu geblieben sind. Um 1985 herum begann ich, die Texte zu schreiben, zu denen ich auch heute noch stehen kann. Ich hörte zum ersten Mal Gedichte von Thomas Brasch und Nicolas Born, zwei Dichter, die ich bis heute verehre. Je mehr Gedichte ich in dieser Zeit dann las, umso mehr wollte ich auch jemand werden, der ohne Poesie im Leben nie mehr richtig zurechtkommen würde.

Bis aus meinen jämmerlichen Celan-Kopien der Anfangszeit wirkliche Gedichte wurden, vergingen wohl noch etliche Jahre. Als wenn diese Art von übertriebener hermetischer und nur anempfundener Dichtung die Geschlossenheit eines Systems wie der DDR brauchte. Als dieses Land nicht mehr existierte, war es mit solchen Texten dann langsam grundsätzlich vorbei. An die Stelle von Wörtern wie Wolkengebetsauge und Mandelblut traten plötzlich Zetkinpark und Otchanganariva. Ich hatte mein Meer am Ende der achtziger Jahre in Gedanken mit nach Leipzig genommen. Dass mich mal ein Wort wie »Fremdlingin« von Georg Trakl so derart faszinierte, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Celan ist für mich in weite Ferne gerückt. Fried hätte solch ein Wort nie gebraucht. Meine DDR war die Ostsee, und die war nie tief.

DIE LÄNDER ÄHNELN SICH, DIE INDUSTRIEN

Verfallen still verkabelt in Gesänge,
Berauschen sich an der Belegschaftsstrenge‚
Das Klima wird belauscht in Hierarchien.

Die Zellen kriminell, im Osten waren
Verfolgungsangst und Not elementarer,
Das Niederhalten von Gedichten klarer.
Zur Freude fehlt nur altes Drohgebaren.

Gedichte zählen zu den Abhördaten.
Auf engstem Raum macht sich Gesellschaft breit
In einer Sprache, die sich göttlich sperrt.

Ich hätte schießen können und verraten,
In keinem Land war ich dazu bereit.
Die Treue, nein zu sagen, war nichts wert.

Ich habe schon damit angefangen, Tiergedichte zu schreiben, weil ich es den Menschen dieser Welt schon längst nicht mehr zutraue, diese Welt nicht untergehen zu lassen.
Erich Fried schrieb: Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt. Ich habe ein Sauriergedicht, ein Papagei und Iltis-Gedicht, ein Fliegengedicht, ein Walgedicht, ein Robbengedicht, ein Delphingedicht und ein Spinnengedicht geschrieben:

ICH LEBE MIT EINER SPINNE ZUSAMMEN, SIE
Am Toilettenfenster, ich am Toilettenfenster, aber
An einem viel kleineren als sie, und das alles
Noch nicht mal zur Straße hin, hoffentlich
Fehlt sie mir nicht eines Tages, es gibt nicht
Viele, die so sind wie sie, so beständig, tapfer
Und dick, unser Spiel besteht immer darin,
Mein Spiel besteht darin, sie anzupusten, bis sie,
An ihrem Faden, gegen das Glas schwingt und
Lacht, unangestrengter kann man wirklich nicht
Verblöden, ich sehe doch, wie sie lacht, ich sehe
Doch, wie beschwingt sie zittert und lacht, und
Das alles noch nicht mal zur Straße hin.

Ich habe Erich Fried in all den Jahren verpasst, obwohl immer ein Raunen von ihm und seinen Gedichten zu mir herüberdrang.

Aus dem Leben
bin ich
in die Gedichte gegangen

Aus den Gedichten
bin ich
ins Leben gegangen

Welcher Weg
wird am Ende
besser gewesen sein?

In seinem Buch Freiheit herrscht nicht (Gespräche und Interviews) fand ich diese Zitate:

„Ich glaube ja nicht, dass es die Hauptaufgabe von Literatur ist, eine dienende Magd der Politik zu sein, sondern dass es die Hauptaufgabe der Literatur ist, wie aller Kunst, gegen die Entfremdung zu kämpfen – für das wirkliche Hören, Sehen, Fühlen, Denken gegenüber den Schablonen und den denkfeindlichen und sehfeindlichen Mustern in unserer Gesellschaft. Dabei ergibt sich natürlich das politische Engagement bis zu einem gewissen Grad von selbst.“

„Ein politisches Gedicht, das nur politische Interessen vertritt und keine menschliche Anteilnahme mehr enthält (sogar unter Hintansetzung jeglicher politischer Zweckmäßigkeit), ist ein Gedicht, das ich ablehnen möchte, weil es selbst wiederum einen Entfremdungs- und Entmenschungsprozess weitertreibt.“

„Die Anteilnahme an den Menschen, an der menschlichen Not hat den Vorrang, sogar falls man dadurch in Konflikt mit den eigenen politischen Ansichten und Absichten kommt.“

Aus meinem ersten Roman Die Ernennung der Jugend zum Schlaf, den ich im Januar 1989 begonnen hatte, ist damals nur eine kürzere Erzählung geworden. Ich konnte nicht beides zusammen, demonstrieren und schreiben. Ich empfand das als Hindernis und wusste aber auch, diese Demonstrationen, diese starken Veränderungen in meinem Land, nicht aus diesem Text heraushalten zu können. Für mich ist es klar, gar nicht anders zu können, als auf den 24. Februar 2022 und den 7.Oktober 2023 in Gedichten oder Romanen auf meine Art zu reagieren, weil sie alles andere sind als Fliegenschiss-Daten der Weltgeschichte. In meiner Jugendzeit rümpfte ich über den Begriff der engagierten oder politischen Lyrik nur die Nase. Heute denke ich, daß ich schon damals für die Entdeckung des Dichters Erich Fried bereit gewesen wäre, weil mich seine Ausführungen über politische Dichtung fast 30, 40 Jahre später doch noch eingeholt haben.

Fried schreibt: „Engagierte Lyrik ist jedes Gedicht, das die Anteilnahme des Autors an Zeitereignissen: als Kritik an den Ereignissen, als Klage über diese Ereignisse, als Ausdruck der Freude über diese Ereignisse enthält und darüber hinaus seinen eigenen Willen, sich in irgendeiner Weise politisch zu betätigen, zu helfen, zu protestieren. Vielleicht kann es auch andere Menschen dazu auffordern, dasselbe zu tun, sich für eine Sache zu engagieren. Aber die an die Zeitgenossen gerichtete Aufforderung scheint mir immer viel zweifelhafter als der Bericht über sich selbst.“

Eine schönere antibiographische Skizze Erich Frieds als die von Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch Scharmützel und Scholien, das 2009 bei Suhrkamp erschien, kann ich mir weiß Gott nicht vorstellen:

Die Leser folgen ihm zögernd, aber die Sprache folgt ihm aufs Wort und tut alles, was er will. Sie tanzt nach seiner Pfeife, schießt Kobolz und erhebt sich feierlich in die Lüfte. Dies alles fast unbemerkt: Fast heimlich schreibt Fried, was ihm einfällt nieder, in der tube, im Treppenhaus, im Bett, im Gehen, er schreibt es auf Bierfilze, Papierservietten, Zeitungsränder, Fahrscheine, er kann es nicht lassen. Das meiste ist ungedruckt, und man muß Fried besuchen, um etwas davon zu hören. Die ungefähr zwölftausend Gedichte, die er geschrieben hat, kann er allesamt auswendig. Er hat auch einen Roman geschrieben, aber dieser Roman ist gar kein Roman, sondern eine Abbreviatur aller literarischen Möglichkeiten, es sind Gedichte darin, Novellen, Parabeln, Essays, Kommentare, autobiographische Stücke, Anekdoten, Legenden, Mythen, Sonette, Limericks…Vielleicht haben die Leser Angst davor, Angst, Fried könne und wisse zu viel. Er sieht aus wie ein Fabelwesen. Er lebt in einem Vorort von London, mit Kind und Kegel, unter den wunderlichsten Büchern und Leuten. Seine Freunde nennen seine Wohnstatt das Aquarium. Die seltsamsten Leute von London schwimmen aus und ein, bringen tintenfeuchte Manuskripte, Selbstmordideen und alte Schlüssel mit, verabschieden sich um fünf Uhr früh getrost, beschenkt mit Versen, einer fast ungebrauchten Hose, lachend und weinend: sie waren bei einem Zauberer zu Gast.“

Es gibt ein Bild von 1968, auf dem, Seite an Seite, Erich Fried, Rudi Dutschke und Gaston Salvatore demonstrierend zu sehen sind. Gaston lernte ich 2010 in Venedig kennen und lieben.
Wir stritten, wir tranken, wir sprachen über Hafis und die Generation von 1927, wir schwärmten, wir hörten Musik. Was würde ich jetzt dafür geben, ihn nach Erich Fried gefragt zu haben.

Unter dem Bild stehen diese Sätze von Marcel Reich-Ranicki:

„Hat Erich Frieds Lyrik seine Zeit überstanden? Was er an politischer Protestliteratur fabrizierte, hat ihn wohl unter Preis verkauft. Doch seine zarteren Gedanken werden bleiben.“

Dieses Gedicht ist für Gaston, der neben Erich Fried und Rudi Dutschke auf der Straße war:

ES SIND DIE LETZTEN SCHÖNEN TAGE HIER
Auf dieser Welt, ich weiß, was nötig wäre,
Mit einem Ascher, einer Gartenschere
Zertrümmer ich den Tisch mit Schalentier.

Wir hören Gieseking und warten lange,
Daß von den Ratten endlich Zeichen kommen
Und sie sich warnen, uns mal ausgenommen.
Bewegung mit Geruch in vollem Gange.

Gedächtnistraining ohne Instrument,
Die Einbeziehung des gesamten Arms,
Gaspard de la nuit in Zattere.

Das Licht, das uns von Heilgetränken trennt,
Die Flügeladern des Insektenschwarms,
Baronia brevicornis, flattere.

Ich widme diesen Preis meinem unvergessenen Freund und überragenden Dichter Ulrich Zieger: der das letzte Wort haben soll:

Öffentlicher auftritt,

Es ist jetzt manchmal so,
dass ich gar nicht gelebt haben will,
nicht am mauerwerk der evangelischen pfarrkirche
zu waldheim gelehnt haben möchte
im herbstlicht,

als ich sechs war oder sieben,
angefüllt zwar von verderben und schwermut
und still doch sie feiernd in letzten
erheblichen strahlen
der sonne,

der wein,
der untrinkbare, lohte
in ganz unerfindlichem rot
an den nackten und ragenden häusern
aus denen es stach,

ich möchte die meisten der menschen
an die ich geglaubt und an die ich mein herz
gehängt, die ich „nur so“ gekannt habe,
auch gar nicht mehr kennen,

ich möchte sie mir
nicht mehr vorstellen müssen:
wenn wir aus dem himmel gefallen sind,
herrschen dort offenbar schreckliche zustände,
himmel und hölle sind austauschbar,
was skandalös bleibt,

ich war nur betrunken
und dann und wann sehnsüchtig,
niemand von denen da hat mich geliebt
nur mein todesweg hat sie gefesselt,

dich hätte ich gerne gefesselt,
dich auch und auch dich, doch wir waren zu jung
und zu feige in unseren faschingskostümen
da ging etwas schief, niemand weiss was das war,

ein roboter, der wirklich nichts wusste
und den sie darauf abgerichtet hatten
dir tatsächlich etwas anzutun –
so zäh sind faschisten,

wer sind diese niederträchtigen leute
was bilden sie sich ein und was
erreicht sie nicht

(L´Atelier/ Die Werkstatt, 2010)

Ich danke Ihnen allen vielmals.

Thomas Kunst, 21.10.2023