// unveröffentlichte Texte aus der exil.Literaturhauswerkstatt

N. A. Jonke
Brigitta, meine Sonne
Auszug aus BRIGITTA [Arbeitstitel]

 

Der Name „Brigitta“ lässt sich zurückführen auf die keltische Lichtgöttin Brighid, die als Archetypus für das Licht, die Sonne und das Feuer steht. Seine Bedeutung wandelte sich im Laufe der Zeit von „hell“, „strahlend“ zu „die Erhabene“, „die Göttliche“.

Brigitta und ihre Vögel. Brigitta und ihre Marmorlippen. Brigitta und ihre Leinenhemden, den lavendelblauen. Brigitta und ihre sonnenverfärbten Hände, mit welchen sie das Leben einfängt, alles auffängt.

Kurz vor der Flut kommen die Vögel. Scharen an spitzen Kiebitzen, langbeinigen Kiebitzregenpfeifern, flinken Knutts. Alpenstrandläufer, mit hungrigen schwarzen Bäuchen. Sie suchen nach Wattwürmern, nach Krebsen, nach Essbarem. Die letzten „krrrüs“ verklingen, es wird ruhig, alle sind konzentriert, nur das Wasser brodelt bereits leise im Innersten. Kurz vor der Flut sammeln sich alle am muschelbesetzten Strand, um zusammen zu speisen. Das letzte Mahl bevor die Wattflächen von der Nordsee verschluckt werden.

Eine kam mit dem Willen, all jenes einzufangen: Die Vögel im nassen Sand, in der feuchten Luft, die Beinchen umspült von sanften Schaumwellen; in Gruppen, allein, zu zweit, um die gefundene Muschel streitend. Brigitta steht, die Kamera vorm Gesicht, inmitten der flatternden Reisenden. Auch sie war hierhergekommen, auf Föhr, um sich zu nähren. Momentaufnahmen, Farbmosaike aus bläulichen, grauen und grünen Schlieren, bewegte Flügel und scharfe Schnäbel, das war ihre Nahrung.

Etwas weiter weg, abseits der Salzwiesen, auf grünen Wiesenflächen steht eine Gruppe ebenso hungriger Alpenläufer. Aus den Berchtesgadener Alpen hierher nach Nordosten gezogen, bis hin zur Grenze der Zustände, wo die Welt zu fließen beginnt.

Sie besteigen einen Katamaran und überqueren den Lebensraum tausender, ja abertausender und fliegen über die Wellen. Sie legen an und lesen „In certum quo fata ferunt“ am Wyker Hafen und lachen. Bis auf eine. Eine junge Frau, eine einsame Felsenschwalbe, die unabhängig von den anderen dieselbe Reise auf sich nahm, um den Salzburger Hochkönigen, den Kulturfürsten zu entkommen. Sie kann nicht lachen über die Inschrift aus Seefahrerzeiten, das Ungewisse macht ihr Angst, sie fürchtet die Havarie.

Den Alpen entlaufen steht die junge Frau nun im norddeutschen Küstenwind und möchte sich ergötzen an der Weite der flachen Insel, der Grenzenlosigkeit des grauen spiegelglatten Meeres, das zwischen ihr und dem Horizont gespannt ist. Sie möchte ausbrechen aus den Kalkmauern, den Dolomitwänden, die ihr zuhause die Weitsicht versperren und ihren Geist bedrängen. In der schönen Enge, dem Blühnbachtal, aus dem nur das Wasser, die Salzach, einen Ausweg hat. Doch den Alpen ist nicht zu entkommen, so scheint es; kaum ein Tag in Freiheit verging, da stolpert sie über salzburgerische Kalkmänner mit verkrampften Bergkiefern und nur allzu bekanntem Grinsen.

Wir kennen uns doch? Auch aus Werfen?

Wären es nur die Männer gewesen, hätte sie gesagt: Nein, ich glaub, Sie irren. Oder Ja, noch einen schönen Urlaub Ihnen. Sie hätte sich vielleicht auf eine überschaubare Konversation eingelassen, auf einen schnellen Kaffee, hätte die Eckdaten über sich erzählt: sie sei Florin, ihre Großmutter ist die ehemalige Bürgermeisterin Prantl gewesen, jaja schrecklich damals der Unfall, sie wohne eigentlich nicht mehr in Werfen, ist nach Salzburg in die Stadt gezogen, ja sie studiert, Sprache – Wirtschaft – Kultur an der Paris London Universität, nein so genaue Pläne für danach habe sie noch keine, sie werde schon unterkommen, irgendwo, im heimatlichen Kulturbetrieb.

Die Männer hätten genickt, die Prantl war ein Segen für den Ort gewesen, Florin werde ihren Weg schon machen und vielleicht hätte Georg sie abends zum Essen eingeladen. Wären es nur die Männer gewesen, was hätte Georg alles gesagt? Aber inmitten all der Eventualitäten stand die Realität, stand Brigitta, und Georg stand, den Arm um sie neben ihr.

Wir kennen uns doch irgendwie. Auch aus Werfen?

Brigitta war plötzlich neben ihr auf der Mittelbrücke an der Promenade gestanden. Die junge Frau war erschrocken, sie kannte Brigitta. Kannte all ihre Fotografien, kannte ihre schönen Augen, die so eisig wie die Salzach im verschneiten Frühjahr waren, kannte ihren Ledermantel und ihre unverkennbare Kette aus geschliffenen Dolomitsteinen, die sie jeden Tag wie auch heute trug. Aber was sie nicht kannte, war, dass diese reine, wie der Wind durch die Bergkiefern rauschende Stimme zu ihr sprach. Ja, Brigitta Kammerlander, nicht wahr? Ich bin eine große Bewunderin Ihrer Fotografien, die junge Frau schluckte den Schreck hinunter. Ach bitte, wir sind doch demselben Tal entsprungen, und du bist? – Prantl, Florin.

Brigitta lächelte und der wolkenbedeckte Himmel schimmerte orangerosa, feine Sonnenstrahlen durchzogen die feste Luft. Achja, Prantl, seufzte Brigitta, sie war eine alte Freundin ihrer Großmutter gewesen, ein großes Vorbild für alle Frauen! schrecklich, der Unfall damals, aber ihre Großmutter habe Florin ab und an mitgenommen, zu den gemeinsamen Spaziergängen, sie muss noch ganz klein gewesen sein, spannend, wie man Menschen auch in ganz verändert Form doch noch erkennt.

Darf ich dir Georg, meinen Mann vorstellen, ich weiß nicht, ob ihr euch kennt.

Florin hatte Georg die Hand hingestreckt, in Gedanken bei ihrer Großmutter und dem für sie neuen Bild, in dem sie beide mit Brigitta durch die Salzburger Wälder spaziert waren und dann hatte sie Johann die Hand geschüttelt und man hatte ihr auch noch Henrik vorgestellt. Henrik war ein alter Freund der Gruppe, den sie alljährlich besuchten hier auf Föhr. Die Gruppe hatte Florin zum Essen eingeladen und weil es eben nicht nur die Männer gewesen waren, sondern auch Brigitta mit ihren warmen Eisaugen und den glänzenden Marmorlippen, war sie mitgegangen.

Im Gasthaus „Zum glücklichen Matthias“ saßen sie dann beisammen und Georg fragte Florin nach ihren Eckdaten. Sie studiere Sprache – Kultur – Wirtschaft? er sei ja seit über 25 Jahren tätig im heimatlichen Kulturbetrieb, die Festspiele kenne sie ja, er werde sie schon unterbringen, grinste er, ein hübsches Gesicht sei immer willkommen. Florin versuchte zu lächeln. Der Glückliche Matthias sei im Übrigen deshalb so glücklich, weil er innerhalb einer Zeitspanne von fünf Jahrzehnten über dreihundert Wale erlegen konnte, deshalb nennt Georg Johann gerne den glücklichen Johann. Florin fragte, wie viele Wale den Johann in den letzten fünf Jahrzehnten erlegen konnte. Georg lachte schallend und meinte: Na Walfänger ist er keiner, aber die eine oder andere Frau konnte er schon erledigen.

Florin zuckte mit den Mundwinkeln und blickte zu Brigitta. Die saß am anderen Ende des Tisches. Von Georgs aberwitzigen Gefasel nahm sie keine Notiz, sie nippte an ihrer Kaffeetasse und fragte Henrik, der sich bei Florin als Leiter des Nationalparks vorgestellt hatte, eine Sache nach der anderen. Welche Zugvögel konnte man denn zu dieser Zeit beobachten? Von wo kamen sie und wohin flogen sie weiter? Welche waren gefährdet, welche stark? Wann sei die beste Zeit, sie zu fotografieren? Dann setzte sie Kaffeetasse ab und am weißen Porzellan schimmerte ein korallenroter Lippenabdruck. Florin fragte sich, wie viel von Georgs Lippen in diesem Abdruck war.

Nachdem Brigitta ihre Tasse zum letzten Mal an ihre Lippen geführt hatte, verkündete sie, jetzt einen Fahrradverleih zu suchen, um weiter in den Norden der Insel zu fahren, sie wolle die Knutts fotographieren, alle seien herzlich eingeladen, sich ihr anzuschließen. Die Männer standen auf und Florin blieb sitzen. Brigitta legte ihr die Hand auf die Schulter, sie würde sich über Florins Begleitung freuen. Und so fand sich Florin hinter Brigitta fahrend, auf einem roten Dreigang-Rad, Georgs Atem im Nacken. Als sie abstiegen, lobte er Florins Kondition, Jugend schenke eine besondere Ausdauer; seinem glasigen Blick auszuweichen, war unmöglich, schließlich umgab sie nur die flache See. Ein Schwälbchen landete neben Florins Rad und dankbar für die Ausflucht übergab die junge Frau dem Vogel ihr Unbehagen und ließ ihn damit davonfliegen.

Jetzt, kurz vor der Flut, stehen die Alpenradfahrer am Strand, eine junge Frau und zwei Kalkmänner; Henrik und Brigitta gehen vorsichtig zum Wasser hin. Die Knutts picken gierig in den von den Wellen glasierten Sand, Brigitta hebt ihre Kamera. Georgs Blicke picken gierig an Florins Wangen, ihren Haaren, doch sie konzentriert sich ganz auf die Fotografierende, auf die leuchtende Sonne hinter der Linse. Florin ist ganz bei Brigitta, doch die hat nur Augen für eines: die Vögel. Und während die Knutts weiter ihr Mahl genießen und sich nur für die Würmer und Muscheln und nicht für die Kamera interessieren, fliegt hinter ihnen eine Küstenseeschwalbe durch Brigittas Bild.

Das leise Rauschen tief am Meeresboden wird zu einem Beben, die Vögel werden unruhig. Brigitta ruft: Das Wasser kommt! Und die Fluten kriechen in Richtung Landesinneres, die Wellen bäumen sich auf. Als dann die Tide kentert, steht alles still, alles fließt, alles ist in Bewegung und die Knutts erheben sich in die Lüfte, Brigitta schließt ihre Linse und Florin sucht den Himmel ab nach ihrem Schwälbchen.

© N. A. Jonke

Nayra A. Jonke wurde 2003 geboren. Sie wuchs in einem Funkloch in Oberösterreich zwischen Wald und Maisfeldern auf. Heute mit Leidenschaft Studentin der  Germanistik und (etwas leidvoll) der Politikwissenschaften an der Universität Wien. Co-Gründerin des Literaturkollektivs wort:netz, das vierteljährlich literarische-musikalische Abende veranstaltet. Veröffentliche im Literaturmagazin DUM („Das Ultimative Magazin“).

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