#Roman

Von Stufe zu Stufe

Felix Kucher

// Rezension von Arno Rußegger

Pünktlich zum 75. Todestag von Louise Fleck-Kolm (1873-1950), der maßgeblichen Pionierin österreichischer Filmkunst um 1900, ist der vorliegende Roman erschienen, der zwei Erzählstränge miteinander verquickt: einige Etappen aus der Lebensgeschichte einer tatkräftigen Frau in einer launenhaften Männerwelt und die Suche eines Filmwissenschaftlers nach verschollenen Stummfilmen, die bis in die Keller der ukrainischen Stadt Czernowitz kurz vor der russischen Invasion im Februar 2022 führt.

Vor 75 Jahren, am 15. März 1950, verstarb eine der bemerkenswertesten Vorkämpferinnen und Visionärinnen in Sachen Filmkunst, die dieses Land jemals hervorgebracht hat: Louise Fleck-Kolm. Wenn heute der große Anteil von weiblichen Filmschaffenden am international höchst erfolgreichen österreichischen Film allenthalben anerkannt ist, dann wurden schon vor dem Ersten Weltkrieg die Grundlagen dafür gelegt. Doch wie so vieles und viele andere Künstler:innen geriet auch Louise Fleck-Kolm, deren Biographie aufs Engste mit der unheilvollen Historie des 20. Jahrhunderts verquickt ist, zunächst in Vergessenheit. Erst in jüngerer Vergangenheit wird ihr die Würdigung zuteil, die sie verdient, bis hin zu einem Preis, der ihren Namen trägt. Ausschlaggebend für diese verzögerte Anerkennung war wohl, dass sie als Frau – ungeachtet der herausragenden Leistungen, die sie vorzuweisen hatte und hat – schlicht und einfach nicht im Gedächtnis der ‚Kulturnation‘ Österreich kanonisiert wurde.

Wenn man sich also auf eine Spurensuche begibt, wie es der Autor Felix Kucher offensichtlich getan hat, gestaltet sich diese recht mühsam und umständlich. Trotzdem stößt man auf buchstäblich Dutzende Filme und Drehbücher aus ihrer Hand. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass Louise Fleck-Kolm zu Recht mittlerweile – sogar im internationalen Maßstab – als eine der allerersten Direktricen/Regisseurinnen gilt.

In seinem fünften Roman versetzt uns der Autor, seines Zeichens Professor und Gymnasialdirektor in Villach, in die Frühphase der österreichischen Kinogeschichte. Louise, geborene Veltée, entstammte einer Familie aus Lyon, die sich im Unterhaltungsgewerbe einen Namen gemacht hatte, war doch ihr Vater etwa der Begründer des Wiener Stadtpanoptikums, in dem später unter der Leitung seines Sohnes Claudius auch Filme öffentlich vorgeführt wurden. In erster Ehe war Louise mit Anton Kolm verheiratet, einem Fotografen, mit dem gemeinsam sie ein erfolgreiches Studio in der Wiener Innenstadt betrieb. Im Sommer war Anton sogar in Bad Ischl tätig und konnte dort inmitten der wohlhabenden Kurgäste besonders gute Geschäfte verbuchen. Da immer wieder Geld auf die hohe Kante gelegt werden konnte, begannen die Kolms ab 1906 mit der Herstellung von kurzen Filmen, zunächst in rein privatem Rahmen, in der Folge – vor allem aufgrund der von Louise ergriffenen Initiativen, nicht selten gegen die Indolenz ihres Mannes – auch für kommerzielle Zwecke, wobei es Louise darauf ankam, literarische Stoffe zu adaptieren, um das Medium Film als Kunst zu etablieren.

Kucher versteht es, wie schon in seinen bisherigen Büchern, seiner Leserschaft historisch gewordene gesellschaftliche Verhältnisse zu vermitteln. In bewährter Manier entwirft er mehrere Plots, deren innerer Zusammenhang im Zuge einer überaus abwechslungsreichen Dramaturgie erkennbar wird. Ergebnis ist eine multi-perspektivisch aufbereitete Handlung, die einerseits auf die Aktivitäten von frühen Filmproduktionsfirmen (z. B. Johann Schwarzer und seine Saturn-Film, Alexander Graf Kolowrat-Krakowsky und seine Sascha Filmfabrik, Anton und Louise Kolm sowie Jakob Fleck und ihre Wiener Kunstfilm-Industrie) rekurriert und andererseits bereits eine zeitgenössische Forschungsperspektive darauf thematisiert.

Daraus resultiert ein zweiter Haupterzählstrang, eine Art road novel, die uns Anfang der 2020er-Jahre in die Ukraine führt, ein Land, das bereits von ersten Kriegshandlungen betroffen ist. In jeder Szene wird die Bedrohung durch eine noch viel umfangreichere russische Invasion spürbar. Protagonist ist ein gewisser Marc, ein Mann um die Vierzig, der kurz vor Weihnachten von seiner bevorstehenden Entlassung aus den Diensten des Filmarchivs erfährt. Seine Hoffnungen auf eine akademische Karriere als Wissenschaftler scheinen damit endgültig ad acta gelegt werden zu müssen. Doch Marc springt ein glücklicher Zufall bei: Über eine rumänische Pflegerin seiner Großmutter bekommt er Fotos aus Czernowitz zu Gesicht, auf denen im Hintergrund alte Filmrollen mit bruchstückhaft erkennbaren Beschriftungen zu erkennen sind. Insbesondere ein Hinweis auf Von Stufe zu Stufe, der als möglicherweise erster österreichischer Spielfilm (von 1907? 1908?) gilt, dessen Existenz, Urheberschaft und Verbleib allerdings bis heute unklar sind, bildet fortan den rätselhaften Kern, sozusagen die zentrale Leerstelle des Romans.

Geht es also im einen Fall um die Produktionsbedingungen einer in den Kinderschuhen steckenden Filmindustrie, um die Entwicklung einer arbeitsteilig organisierten Herstellung und Vermarktung von Stummfilmen unter maßgeblicher Mitwirkung von Frauen, geht es im anderen Fall um die geradezu detektivischen, mehr oder weniger abenteuerlichen Bemühungen, alte Filme ausfindig zu machen, obwohl die ursprünglichen Bestände im Laufe der Zeit (meist aufgrund des unbeständigen, selbstentzündlichen Trägermaterials aus Zelluloid) vielfach entweder zerstört oder einfach nicht bzw. nicht fachgerecht genug aufbewahrt und gelagert wurden.

Felix Kuchers Recherchen sind zum Teil explizit in den Roman eingegangen, beispielsweise eine bemerkenswerte Fleck-Kolm-Biographie von Uli Jürgens (Louise, Licht und Schatten, 2019); des Weiteren ein Fernseh-Interview, das der bedeutende Filmregisseur und Medienmann Axel Corti im Jahre 1970 mit dem betagten Heinz Hanus geführt hat, einem Schauspieler und einstigen Produktionspartner der Kolms. Da es sich bei diesem Gespräch um die einzige ‚Quelle‘ für die Produktion von Von Stufe zu Stufe handelt, bleibt nach wie vor unklar, als wie vertrauenswürdig die Erinnerungen von Heinz Hanus überhaupt einzuschätzen sind. Felix Kucher hat sich da einiges einfallen lassen, um Hanus‘ subversive Strategien mit dem Ziel darzulegen, Louise beiseite zu drängen und sich selbst auf ihre Kosten zu profilieren. Damit wird Hanus zu einem typischen Vertreter jener Gruppe von Männern, aus deren Mitte heraus Louise agierte: der Ehemann, der Bruder, der Angestellte und (spätere zweite Ehemann) Jakob Fleck, der kleine Sohn Ludwig. Das Private und das Kreativ-Schöpferische sind für Louise untrennbar miteinander verbunden, das Eine spielt dauernd ins Andere hinein, was ihr eine besondere Kraftanstrengung abverlangt, während die Männer viel unbedarfter tun und lassen, was sie wollen.

Wie es sich für gut erfundene historische Romane geziemt, hat der Autor die unvermeidlichen Lücken der Überlieferung mit Hilfe seiner cineastisch geschulten Phantasie gefüllt und auf diese Weise zwei Hauptfiguren geschaffen, die als durchaus ambivalente Persönlichkeiten aufgefasst werden können. Louise verfügt fraglos über ein avanciertes Selbstbewusstsein und möchte sich nicht mehr dauernd von den Männern bevormunden lassen. Zu den dezidierten Frauenrechtlerinnen in einem sozialpolitischen Sinn, die damals öffentlich aktiv wurden, zählt sie dennoch bestimmt nicht. Und bei Marc handelt es sich sowieso um einen recht eigenwilligen Charakter, der zwar Roofing betreibt, auf Stufengänge nach unten jedoch phobisch reagiert, sich latent aggressiv gebärdet, zuweilen auch frauenfeindlich, wenngleich manchmal mit selbstironischen Anwandlungen. Sein insgesamt eher unsympathischer Charakter wird ansatzweise für eine Wissenschaftssatire genutzt, die sich gegen den institutionalisierten Umgang mit Wissen und Universitätsposten richtet.

Abschließend sei noch das Ratespiel für Cineast:innen erwähnt, das Felix Kucher mit einer Fülle an Hinweisen, Zitaten (explizit oder nicht ausgewiesen) und intermedialen Referenzen auf Werke und Persönlichkeiten der Filmgeschichte in den Roman integriert hat. So entwickelt sich quasi von Stufe zu Stufe die Struktur des Ganzen, wobei es an den Schnittstellen der Kapitel, Abschnitte und Absätze wiederholt zu schönen Übergängen kommt, die auf einer poetischen Imitation filmtechnischer Ausdrucksmittel beruhen.

Arno Rußegger, ao. Univ.-Prof. i.R., Studium der Germanistik und Anglistik, verbrachte seine wissenschaftliche Laufbahn zunächst am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv, danach (ab 2009) am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Dissertation über Robert Musil, Habilitation (2004) zum Thema Selbstbezüglichkeiten in Literatur und Film. Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeit mit folgenden Schwerpunkten: Österreichische Literatur seit 1900, intermediale Literatur, Filmanalyse, Kinder- und Jugendliteratur, angewandte Germanistik (Buchforschung, Literaturvermittlung, Literaturbetrieb). Buchpublikationen: als Hrsg. [gemeinsam mit Ulrike Krieg-Holz]: Österreichbilder. Mediale Konstruktionen aus Eigen- und Fremdperspektive (Marburg 2022); als Hrsg. [gemeinsam mit Gottfried Schlemmer und Georg Seeßlen]: Hans Moser. Wiener Weltschmerzkomiker (Wien 2020); als Hrsg. [gemeinsam mit Andreas Peterjan]: Neo-Phantastik (Wien 2018) (= libri liberorum, Heft 49; als Hrsg. [gemeinsam mit Angela Fabris und Jörg Helbig]: Horror-Kultfilme (Marburg 2017).

Felix Kucher Von Stufe zu Stufe
Roman.
Wien: Picus Verlag, 2025.
256 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-7117-2155-6.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Felix Kucher

Rezension vom 15.04.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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